Förderschwerpunkt Hören
Bei Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Hören handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Formen und Ausprägungen der Hörschädigung. Je nach Ausprägung kommunizieren diese Kinder und Jugendlichen in Lautsprache und/oder Gebärdensprache und sind in unterschiedlicher Form hörtechnisch versorgt. Ein nennenswerter Anteil der Kinder und Jugendlichen dieser Gruppe hat eine zusätzliche Beeinträchtigung. Die Hörschädigung kann Auswirkungen auf den Lautspracherwerb, die Kommunikation sowie weitere Kompetenzbereiche (z. B. Lesen und Schreiben) haben (vgl. MKJS 2020).
Ursache einer Hörschädigung ist eine Veränderung der Strukturen und Funktionen, die am Hören beteiligt sind (vgl. WHO 2011).
Zu den Strukturen gehören: das Außenohr mit der Ohrmuschel und dem Gehörgang, das Mittelohr mit dem Trommelfell, der Tube und den Gehörknöchelchen sowie das Innenohr mit der Cochlea (Hörschnecke). Außerdem sind der Hörnerv sowie verschiedene Gehirnregionen an der Weiterleitung und der Verarbeitung von auditiven Reizen beteiligt.
Zu den Funktionen des Hörens gehören: Schall wahrnehmen, Schallquellen orten, akustische Reize differenzieren und dadurch Stör- von Nutzschall unterscheiden. Letzteres ermöglicht insbesondere Sprache von anderen Tönen oder Geräuschen aus der Umgebung zu unterscheiden.
Bezugnehmend auf die beschriebenen veränderten Strukturen und/oder Funktionen lassen sich folgende Formen der Hörschädigung unterscheiden (vgl. Leonhardt 2019):
Schallleitungsschwerhörigkeit | Die Weiterleitung der akustischen Reize im Außen- und Mittelohr ist eingeschränkt oder nicht möglich. Daraus entsteht eine quantitative Veränderung des Höreindrucks. |
Schallempfindungsschwerhörigkeit (Störungen im Bereich der Cochlea, des Hörnervs oder der zentralen Hörbahn) | Die Umwandlung der akustischen Reize in ein Nervensignal im Innenohr oder die Weiterleitung des Reizes durch den Hörnerv sind gestört. Dadurch kommt es zu quantitativen und qualitativen Veränderungen des Höreindrucks. |
Kombinierte Schwerhörigkeit | Hier liegt eine Kombination aus Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit vor. |
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) | Zentrale Prozesse bei der Verarbeitung und Wahrnehmung der auditiven Reize sind hier beeinträchtigt. Dies kann zu Einschränkungen, bspw. bei der Unterscheidung von Nutz- und Störschall, beim Richtungshören, in der Lautanalyse oder -differenzierung führen. |
Zusätzlich sind folgende Faktoren für die individuelle Ausprägung einer Hörschädigung von Bedeutung:
- der Zeitpunkt des Auftretens der Hörschädigung (vor, während oder nach Abschluss des natürlichen Lautspracherwerbs)
- der Zeitpunkt des Erkennens der Hörschädigung und deren apparative Versorgung
- die Art und der Grad der Hörschädigung (leicht-, mittel-, hochgradig, an Taubheit grenzend)
- die Förderung (Beginn, Umfang und Wirksamkeit von Fördermaßnahmen)
Mögliche Auswirkungen einer Hörschädigung
Grundlage für die Beratung und sonderpädagogische Diagnostik im Förderschwerpunkt Hören ist das Wissen um die im Folgenden beschriebenen möglichen Zusammenhänge zwischen einer Hörschädigung und anderen (Entwicklungs-)Bereichen (vgl. MKJS 2020).
Ein natürlicher Lautspracherwerb erfolgt über Sprachvorbilder in der unmittelbaren Umgebung eines Kindes. Ist die Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache durch eine Hörschädigung beeinträchtigt, kann dies Auswirkungen auf alle Lautsprachebenen haben: Aussprache, Wortschatz, Grammatik und das Sprachverständnis. Der Lautspracherwerb kann demzufolge bei Kindern mit einer Hörschädigung verzögert oder verändert erfolgen, er kann auch ganz ausbleiben. Eine kleine Gruppe von Kindern wächst mit Deutscher Gebärdensprache (DGS) als Erstsprache auf.
Die wichtigste Voraussetzung für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb ist das Beherrschen einer Erstsprache, die sowohl eine Laut- als auch eine Gebärdensprache sein kann. Des Weiteren sind frühe Erfahrungen mit Schrift, Kenntnisse von Geschichten, umfassendes Weltwissen und ein ausgebildeter Wortschatz hilfreiche Voraussetzungen.
Aufgrund der bei Kindern mit einer Hörschädigung oftmals eingeschränkten phonologischen Bewusstheit (Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs) kann es zu Schwierigkeiten beim Erlernen und Anwenden des Lesens und Schreibens kommen. Eine Hörschädigung kann zudem Auswirkungen auf die Anwendung der Schriftsprache (u. a. Grammatik, Syntax) haben. Wenn ein Kind aufgrund seiner Hörschädigung ein Wort anders hört und in der Folge auch anders spricht, besteht die Gefahr, dass die Wörter anders geschrieben werden und es selbst bei lautgetreuen Wörtern zu sogenannten „Hörfehlern“ kommt. Kinder mit einer Hörschädigung sind hier benachteiligt und benötigen besondere Unterstützung.
Ein eingeschränkter aktiver und passiver Wortschatz erschwert das Erfassen von mündlichen Unterrichtsbeiträgen (Vorträge, Gespräche) sowie das selbstständige Erschließen von Texten.
Trotz frühzeitiger hörtechnischer Versorgung und Förderung bleibt die Barriere des Sprachentwicklungsrückstandes bei den meisten hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern während der gesamten Schullaufbahn bestehen.
Die damit einhergehenden Auswirkungen auf andere (Entwicklungs-)Bereiche sind mit Blick auf den schulischen Kompetenzerwerb und die Förderung unbedingt zu berücksichtigen.
Verarbeitung lautsprachlicher Informationen (Wahrnehmung, Denken)
Sprache ist eine, wenn nicht sogar die wesentliche Voraussetzung für den Zugang zu Wissen. Eine Hörschädigung hat Auswirkungen auf das Sprachverstehen und somit auch auf die Verarbeitung sprachlicher Informationen. Werden in der Schule Inhalte hauptsächlich lautsprachlich erarbeitet, können Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung „die sprachlichen Informationen weniger beiläufig aufnehmen wie ihre Mitschüler, was ihnen eine höhere Aufmerksamkeit und Konzentration abverlangt. Unvollständig Wahrgenommenes muss aus dem situativen Kontext ergänzt und kombiniert werden“ (Truckenbrodt & Leonhardt 2020, S. 23). Dies kann zu akustischen und damit inhaltlichen Informationsverlusten führen, was einen altersentsprechenden Kompetenzzuwachs behindern kann.
Gedächtnis
Aufgrund der durch eine Hörschädigung beeinträchtigten Verarbeitung lautsprachlicher Informationen kann es zu Schwierigkeiten beim Abgleich mit dem Langzeitgedächtnis kommen.
Aufmerksamkeit und Konzentration
Das beständige Herausfiltern von relevanten akustischen Informationen aus den vielfältigen Umgebungsgeräuschen oder Gesprächssituationen mit mehreren Sprechern erfordert ein erhöhtes Maß an Konzentration. Die Aufmerksamkeit kann i. d. R. nur über einen begrenzten Zeitraum aufrechterhalten werden. Die erhöhte Anstrengung beim Zuhören führt häufig zu einer verminderten Belastbarkeit, die sich auch in motorischer Unruhe zeigen kann.
Kinder und Jugendliche mit einer Hörschädigung können Schwierigkeiten haben, einem Gespräch in Lautsprache zu folgen. Dies kann mehrere Gründe haben: einerseits können Einschränkungen in der Sprachentwicklung (z. B. Wortschatz, Grammatik) das Sprachverständnis behindern, andererseits stellen die Umgebungsbedingungen (Lärm, Lichtverhältnisse, räumliche Distanz zum Sprecher, schnelle Sprecherwechsel) eine große Herausforderung dar. So kann es in Kommunikationssituationen schnell zu Missverständnissen kommen und damit zu einer eingeschränkten Teilhabe.
Eine Kommunikation in Gebärdensprache ist aufgrund mangelnder oder fehlender Gebärdensprachkompetenz oftmals nur zwischen wenigen Personen möglich. Eine Kommunikation in Gebärdensprache mit Hilfe von Dolmetscherinnen bzw. Dolmetschern schafft Distanz zwischen den Kommunizierenden, so dass Organisatorisches gut, Persönliches nur eingeschränkt besprochen werden kann.
Wenn die erste Kontaktaufnahme und der Versuch einer schnellen einfachen Kommunikation zwischen zwei Personen nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass die Gesprächspartnerin oder der Gesprächspartner kein Interesse an der Fortsetzung der Kommunikation und einer Intensivierung der Beziehung hat. Für Kinder bzw. Jugendliche mit einer Hörschädigung kann es also eine besondere Herausforderung sein, mit anderen in Beziehung zu treten, die Beziehung zu vertiefen und zu pflegen. Die Schwierigkeiten in der Kommunikation können auch Auswirkungen auf andere Bereiche, wie beispielsweise die Motivation oder die Selbstregulationskompetenz haben.
Wie bereits dargestellt liegt eine zentrale Herausforderung bei einer Hörschädigung im Bereich der Kommunikation. Für Schülerinnen und Schüler, die es verstehen, Kommunikationssituationen zu gestalten und selbstbewusst nachfragen, wenn sie etwas akustisch nicht verstanden haben, wird die Hörschädigung weniger Einschränkungen in der Teilhabe bringen als für diejenigen, die weniger selbstbewusst auftreten.
Allerdings können durch die Hörschädigung bedingte Verständigungsschwierigkeiten auch zu Verunsicherung und zum Vermeiden von Kommunikationssituationen führen. Fehlende Kommunikationsvorbilder sowie Verunsicherungen bezüglich der eigenen Kompetenzen durch den Vergleich mit normalhörenden Gleichaltrigen können zu sozialem Rückzug, aber auch herausfordernden Verhaltensweisen führen. Die schnellere Erschöpfung aufgrund einer erhöhten Anforderung an die Konzentrationsleistung kann diese Reaktionen noch verstärken.
Nachfolgend werden die Besonderheiten der sonderpädagogischen Beratung, Diagnostik und Förderung im Förderschwerpunkt Hören dargestellt.