Sonderpädagogische Diagnostik im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung
Um eine frühestmögliche und gezielte Förderung zu ermöglichen und Teilhabemöglichkeiten zu sichern bzw. wiederherzustellen, ist eine umfassende und frühzeitige Diagnostik im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung notwendig.
Ebenso wie die Beratung sollte die sonderpädagogische Diagnostik im gewohnten Umfeld des Kindes oder Jugendlichen stattfinden. Die Möglichkeit einer Langzeitdiagnostik an einer Förderschule ist nur dann in Betracht zu ziehen, wenn zukünftig die weitere Beschulung an einer Förderschule angebracht scheint.
Eine sonderpädagogische Diagnostik im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung überprüft auf Grundlage der vorliegenden Daten und Informationen Art und Umfang
- der Auffälligkeiten in den Bereichen Sozialverhalten und Emotionen in seiner Wechselwirkung bei der Umsetzung (vor-)schulischer Anforderungen, bei Gestaltung sozialer Beziehungen und Regulierungsstrategien des eigenen Verhaltens,
- didaktisch-methodischer Angebote und Rahmenbedingungen
und leitet daraus notwendige Förder- und Unterstützungsmaßnahmen sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Kontext ab.
An dieser Stelle ist auf die Geschlechterspezifik in der Ausprägung von Auffälligkeiten in der emotionalen und sozialen Entwicklung hinzuweisen. Zahlreiche Studien zeigen, dass Jungen häufiger externalisierende Auffälligkeiten, wie SSV oder ADHS, Mädchen hingegen stärker internale Symptomatiken aufweisen, bspw. Angst oder Depressionen (vgl. Hanisch et al. 2023, S. 23). Eigene geschlechterspezifische Normerwartungen bzw. subjektives Problemempfinden von Lehrkräften und dem sozialen Umfeld müssen daher im gesamten diagnostischen Prozess reflektiert werden.
Die Planung und Durchführung der sonderpädagogischen Diagnostik erfolgt auf der Grundlage individualdiagnostischer Fragestellungen und Hypothesen. Hierfür werden in einer Übersicht Formulierungsbeispiele bereitgestellt. Sie dienen als Orientierung und müssen für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler angepasst werden.
Hinweise zu Methoden und Instrumenten
Im Rahmen sonderpädagogischer Diagnostik im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, die je nach individualdiagnostischer Fragestellung und Hypothesen in unterschiedlichem Maße eingesetzt werden:
- Diagnostische Gespräche (mind. mit den Eltern und der Klassenlehrkraft sowie möglichst mit dem Kind oder dem Jugendlichen)
- Dokumentenanalyse (bspw. Schulakte, Förderpläne, vorliegende Befunde anderer Professionen)
- Offene (mind. eine Unterrichtsstunde zu Beginn der Diagnostik) und geschlossene (mind. zu zwei ausgewählten Schwerpunkten der emotionalen und sozialen Entwicklung im und außerhalb des Unterrichts) Beobachtungen
- Standardisierte Screening- und Testverfahren (vgl. Popp et al. 2016, S. 56).
Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die in der Landesliste (2024) empfohlenen Screening- und Testverfahren für die Diagnostik im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.
- Im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung spielt die systematische Verhaltensbeobachtung eine zentrale Rolle, da Verhalten immer im Kontext beobachtet werden muss. Beobachtungen werden an unterschiedlichen Stellen mit verschiedenen Zielsetzungen und Formen eingesetzt (vgl. Popp et al. 2016).
Mögliche Zielsetzung | Zeitpunkt im diagnostischen Prozess | Beobachtungsform |
---|---|---|
Erstes Kennenlernen der Schülerin/des Schülers | zu Beginn der Diagnostik | offene Beobachtung (Verhaltensprotokoll) |
Exploration von anamnestischen Informationen | zu Beginn der Diagnostik/ während der Anamnese | offene Beobachtung (Verhaltensprotokoll) |
Entwicklung und Konkretisierung einer Fragestellung | während der Anamnese |
offene Beobachtung und geschlossene Beobachtungen |
Verifizierung einer Hypothese | im diagnostischen Prozess (nach Entwicklung einer Fragestellung) | geschlossene/standardisierte Beobachtungen |
Absicherung eines Testergebnisses (Absicherung, Prüfung von Situationsabhängigkeit, Ableitung von Fördermöglichkeiten) | nach Testauswertung |
vorrangig geschlossene Beobachtungsformen |
Aufgrund der vielfältigen Zielstellungen und Gegenstände von Beobachtung sind zahlreiche unterschiedliche Protokollformen entstanden, die spezifische Einsatzszenarien unterstützen. In der nachfolgenden Übersicht sind verschiedene Beobachtungs- und Protokollformen dargestellt.
Jegliche diagnostische Beobachtung sollte schriftlich fixiert werden, um später darauf zurückgreifen zu können. Alle Beobachtungsprotokolle sollten dabei jedoch grundlegende Anforderungen erfüllen, damit organisatorische und inhaltliche Transparenz hergestellt und Qualität gesichert werden kann:
- Erwähnung der Rahmenbedingungen (Datum, Zeit, Situation, Beobachterin/Beobachter),
- eigentliche Protokollschrift sowie
- ein Abschnitt zur anschließenden Interpretation und weiterer Notizen.
Zudem gelten grundlegende sprachliche und interpretatorische Prämissen, die beachtet werden sollten (vgl. Mutzeck 2000, S. 162ff., Braun & Schmischke 2010, S. 58ff.):
Operationalisierung | Das zu beschreibende Verhalten muss konkret beobachtbar, d. h. in eindeutig beobachtbare Verhaltensweisen aufgeschlüsselt werden. Dieses kann in bestimmten Fällen durch ein Verhaltensmaß und durch Zeit- oder Mengenangaben zusätzlich aufgeschlüsselt werden. |
Eindeutigkeit | Es muss eine klare Trennung zwischen Beschreibung und Interpretation erfolgen. |
Versprachlichung | Die Beschreibung erfolgt in einer klaren Sprache (Hauptsätze, kein Konjunktiv). |
Zeitform | Beobachtungen während des Prozesses werden im Präteritum beschrieben, die Interpretation erfolgt im Präsens. |
Für die einzelne Protokollformen stehen beispielhafte Vorlagen zur Verfügung:
- P1_Verlaufsprotokolle (offene Beobachtung) (*.pdf, 0,72 MB) Beschreibbare Vorlagen finden Sie beim Unterstützungsmaterial.
- P2_Protokoll Ereignisbeschreibung (*.docx, 23,83 KB)
- P3_Begriffs- oder Zeichensysteme (geschlossenes Beobachtungsprotokoll) (*.pdf, 0,72 MB) Eine beschreibbare Vorlage finden Sie beim Unterstützungsmaterial.
- P4_Einschätz- und Ratingskalen (*.pdf, 0,79 MB)
Beobachtung ermöglicht eine differenzierte Wahrnehmung des Geschehens (Blick von außen). Durch die Anwesenheit der Beobachterin oder des Beobachters kann jedoch auch das Verhalten der Schülerin bzw. des Schülers beeinflusst werden. Weiterhin unterliegt die menschliche Verarbeitungskapazität Einschränkungen. Das Wahrnehmungssystem strukturiert aktiv die vorhandenen Reize, so dass es zu Beurteilungsfehlern kommen kann (vgl. Tröster 2019, S. 46ff.).
Mögliche Beobachtungsfehler sind in der folgenden Übersicht dargestellt.
Das beobachtete Verhalten bzw. seine Häufigkeit muss vor der Interpretation einem Analyseprozess unterzogen und in die vorhandenen Informationen und in an anderer Stelle gewonnene diagnostische Erkenntnisse eingeordnet werden. Gegebenenfalls stellen die Beobachtungen den Ausgangspunkt für weitere spezifischere Beobachtungen oder weitere diagnostische Schritte dar, bei denen die (subjektiven) Beobachtungen durch ein objektives Verfahren, z. B. einen Test überprüft werden. Erst am Ende können die Beobachtungsergebnisse unter Einbeziehung aller gewonnenen diagnostischen Erkenntnisse interpretiert, in den Kontext der diagnostischen Fragestellung gestellt und mögliche Fördervorschläge abgeleitet werden. Mit Hilfe des Schemas soll der Umgang mit Beobachtungsergebnissen während des diagnostischen Prozesses verdeutlicht und dargestellt werden:
Hinweise zu spezifischen Themen
Im diagnostischen Prozess muss geklärt werden, ob der Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung ggf. in Verbindung mit anderen Bereichen (sonder-)pädagogischer Unterstützung steht.
Sollten im Diagnostikprozess deutliche Hinweise vorliegen, dass temporär eine Förderung im Rahmen eines intensivpädagogischen Angebotes notwendig ist, sollten weitere Unterstützungssysteme (bspw. Jugendamt, sozialpädagogische, therapeutische Einrichtungen, LaSuB) bereits zum Förderausschuss hinzugezogen werden.
Bei selektivem oder totalem Mutismus muss im diagnostischen Prozess das mehrdimensionale Bedingungsgefüge der Kommunikationsstörung aufgeklärt werden und ermittelt werden, in welchen Bereichen ein (sonder-)pädagogischer Unterstützungsbedarf vorliegt. Sollten psychische Faktoren gegenüber sprachlichen oder kognitiven prominent sein, kann die Zuschreibung zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung erfolgen. Die Bearbeitung wesentlicher Bedingungsfaktoren sowie der psychosozialen Folgen dieses Störungsbildes bedarf einer multiprofessionellen Zusammenarbeit im Rahmen sonderpädagogischer sowie psychologischer und therapeutischer Maßnahmen.
Eine Diagnostik im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung in Verbindung mit gutachterlich bestätigtem Autismus wird i. d. R. veranlasst, wenn von einer Beschulung nach dem Lehrplan der Regelschule ausgegangen werden kann. Weiterführende Hinweise zur Diagnostik und Förderung sind in den Ausführungen zum Bereich Autismus beschrieben.