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Anamnese, individualdiagnostische Fragestellungen und Hypothesen

Sind die organisatorischen Rahmenbedingungen geplant und vorbereitet, beginnt der diagnostische Prozess mit der anamnestischen Phase der Informationsrecherche (vgl. Bundschuh 2019, S. 133 ff.). 

In dieser Phase sollen hinreichend Informationen recherchiert und dokumentiert werden, um einem ganzheitlichen Ansatz folgend aus Sicht der bisherigen Bildungsinstitutionen (Lehrkräfte/pädagogisches Fachpersonal), der Eltern, des Kindes oder Jugendlichen selbst sowie ggf. unter Einbeziehung weiterer Gutachten und Einschätzungen relevanter biografischer Aspekte des Kindes oder Jugendlichen in seinem Umfeld nachzeichnen zu können. Ein besonderes Augenmerk im Rahmen der anamnestischen Phase liegt auf Beschreibungen und Einschätzungen 

  • des schulischen Lern- und Entwicklungsstandes und der Lebensumstände des Kindes oder Jugendlichen, 
  • ihrer/seiner sozialen Integration und Partizipation im schulischen und außerschulischen Bereich sowie 
  • auf den Informationen zur bisherigen Bildungsbiographie einschließlich der Angaben zu pädagogischer und medizinischer Betreuung, Förderung und Therapie. 

Grundlage bilden in der Regel die Entwicklungsdokumentationen der bisher besuchten Schule/Kindertageseinrichtung sowie die Ergebnisse von Beratungen. Die Aufgabe für Diagnostiklehrkräfte im Rahmen der Anamnese liegt in der förderschwerpunktspezifischen Systematisierung vorliegender Dokumentationen unter Berücksichtigung der im Auftrag beschriebenen pädagogischen Problemsituation, im Klären von Lücken und offenen Fragen durch anamnestische Gespräche sowie in Zusammenfassungen. Die Anamnese ist abgeschlossen, wenn fallbezogen begründete individualdiagnostische Fragestellungen und Hypothesen abgeleitet werden können.

Die anschließende Phase der Festlegung von individualdiagnostischen Fragestellungen und Hypothesen ist eine zentrale Gelenkstelle des diagnostischen Prozesses. Diese bilden die Grundlage für die Beantwortung der zentralen Fragestellungen des Auftraggebers. Hier werden Entscheidungen für und gegen diagnostische Schwerpunkte, Blickwinkel und zu untersuchende Entwicklungsbereiche getroffen. Aus den anamnestischen Informationen werden konkrete individualdiagnostische Fragestellungen und Hypothesen abgeleitet, welche durch diagnostische Verfahren bearbeitbar und beantwortbar sein müssen. Eine nachvollziehbare und fundierte Kombination aus Fragestellung und Hypothesen ist dabei unabdingbar.

Individualdiagnostische Fragestellung Hypothesen
= sprachliche Formulierung, die eine Antwort auslösen soll = Behauptung/Aussage
Ziel ist es, eine Wissens- bzw. Verstehenslücke zu schließen. Es gibt noch keine Verifizierung/ Falsifizierung der Aussagen.

Individualdiagnostische Fragestellungen orientieren sich an den jeweiligen Indikatoren des Förderschwerpunktes und ergeben sich aus den anamnestischen Informationen. Sie dienen der Planung des diagnostischen Prozesses. Individualdiagnostische Fragestellungen sind immer selektiv, indem sie einen bestimmten diagnostischen Bereich aufgreifen. In der Regel sind offene Fragen geeigneter als geschlossene, da man diese nicht mit „ja“ oder „nein“ beantworten kann. Eine Spezifizierung und Eingrenzung erfolgt im zweiten Schritt durch die Hypothesen. Individualdiagnostische Fragestellungen beziehen sich nicht nur auf die Person des Kindes oder Jugendlichen selbst, sondern auch auf Umfeldvariablen, Unterstützungsressourcen oder Merkmale des Bildungsangebotes einschließlich der Unterrichtsgestaltung (vgl. Knebel 2010, S. 233).

Beispiel: Welche Faktoren wirken sich positiv auf L.'s Aufmerksamkeit aus?

Dabei sollte immer das (theoretische) Konzept, nach welchem gefragt wird, bewusst sein: Was genau ist die Aufmerksamkeit? Wie grenzt sich diese bspw. von der Konzentrationsfähigkeit ab?

Bei der Formulierung der Fragestellungen ist Folgendes zu beachten: 

  • Vermeiden von komplexen Fragen, in denen in einer Fragestellung mehrere Fragen versteckt sind oder die einen vertrackten Zusammenhang erfragen
    Beispiel: Von welchen Faktoren ist L.'s Lern- und Arbeitsverhalten, seine Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und seine Konzentration abhängig? 
  • Vermeiden von versteckten Hypothesen
    Beispiel.: Liegt eine Einschränkung in L.'s Konzentrationsleistung vor? 
  • Vermeiden von „alltagspsychologischen“ Vorstellungen sowie Warum- und Kausalfragen, da diese kaum beantwortbar sind
    Beispiel: Warum nimmt L. eine untergeordnete Rolle in der Beziehung zu seinem Freund F. ein? 

Hypothesen sind vermutete Antworten auf individualdiagnostische Fragestellungen und begründen ein hypothesengeleitetes Vorgehen. Sie dienen im diagnostischen Prozess als Arbeitsgrundlage mit dem Ziel, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Hypothesen sind Annahmen, in denen eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Variablen behauptet wird. Eine inhaltliche Passung zwischen individualdiagnostischer Fragestellung und abgeleiteten Hypothesen muss dabei gegeben sein. Weit formulierte Fragestellungen erfordern mehrere in die Breite gehende Hypothesen, enge Fragestellungen inhaltlich spezifische Hypothesen. Zudem sollte sich auch eine kompetenzbezogene Fragestellung in den Hypothesen wiederfinden.

Beispiel:  Wie sind L.'s emotionale Kompetenzen ausgeprägt?

  • L. ist in der Lage, Emotionen altersentsprechend zu erkennen.
  • L.'s Emotionsausdruck ist unterdurchschnittlich ausgeprägt.
  • L. zeigt eine überdurchschnittliche Emotionsregulationsfähigkeit.

Die aufgestellten Hypothesen sollten dabei

  • empirisch überprüfbar (verifizierbar/falsifizierbar),
  • klar,
  • widerspruchsfrei,
  • begrenzt,
  • wertfrei,
  • theoretisch begründbar und
  • als Konditionalsatz (Aussageform) formuliert sein.  

Zudem können Hypothesen in unterschiedliche Arten differenziert werden (vgl. Breitenbach 2014, S. 57):

Feststellungshypothese

Liegt ein Problem vor?

Beispiel: 
L. weist eine unterdurchschnittliche Frustrationstoleranz auf.

Erklärungshypothese

Wie kommt es zu diesem Problem?
Warum gibt es dieses Problem?

Hinweis: Im Gutachten und im förderdiagnostischen Prozess kaum eindeutig verifizier- oder falsifizierbar, da es bspw. oft mehrere denkbare Einflussfaktoren gibt.

Beispiel:
L.'s Lern- und Arbeitsprozess wird durch eine unzureichende Selbstorganisation stark beeinträchtigt.

Differenzierungshypothese

Erklärungszusammenhang des Problems/der Fragestellung

Beispiel:
L. reagiert häufiger impulsiv in Überforderungssituationen als in anforderungsarmen Situationen.

In  dieser Phase ist zu reflektieren, dass Festlegungen von Fragestellungen und Hypothesen auch immer Entscheidungen gegen andere mögliche Fragestellungen sind. Allerdings sind diese nicht als hinfällig zu betrachten, sondern können als Vorschläge für das weitere diagnostische Handeln im und auch im Sinne der Prozessdiagnostik nach dem Feststellungsverfahren dienen. 

Zu jedem Förderschwerpunkt sind innerhalb der Unterstützungsmaterialien exemplarisch Formulierungshilfen für individualdiagnostische Fragestellungen und Hypothesen dargestellt.

Aus der Phase der Formulierung der individualdiagnostischen Fragestellungen und Hypothesen ergibt sich direkt die Phase der Wahl der diagnostischen Verfahren und die Dokumentation der Untersuchungsergebnisse. Hier wird begründet festgelegt, mit welchen diagnostischen Methoden und Instrumenten systematisch Erkenntnisse zur Bearbeitung der Hypothesen und Beantwortung der individualdiagnostischen Fragestellungen gewonnen werden können. Dabei können im Rahmen sonderpädagogischer Diagnostik alle informellen Methoden (Verhaltensbeobachtungen, qualitative Analysen, Soziometrie, diagnostische Gespräche und informelle Prüfverfahren) sowie formellen Methoden (standardisierte und normierte Screening- und Testverfahren) eingesetzt werden.  
 

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