Interpretation und Analyse der Untersuchungsergebnisse
Diagnostik als systematischer Handlungsprozess unterliegt vielfältigen Zielen: Entwicklungsstände beschreiben und einordnen, „Lernprozesse analysieren, die Situation, den Kontext einbeziehen, Diagnose und Förderung konsequent miteinander […] verknüpfen, […] und sich an den Kompetenzen orientieren“ (Breitenbach 2014, S. 61). Es bedarf demzufolge des Einsatzes vielfältiger diagnostischer Methoden, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Verantwortungsvolles Diagnostizieren zieht die Informationen nicht ausschließlich aus einer Quelle heran und verlässt sich darauf, sondern muss aus mehreren Quellen vielfältige Informationen gewinnen.
Die gewonnenen und dokumentierten Ergebnisse des gesamtdiagnostischen Prozesses sind nicht isoliert zu betrachten und zu interpretieren. Es gilt
- die Ergebnisse diagnostischer Verfahren in Beziehung zueinander zu setzen,
- Zusammenhänge herzustellen und
- daraus diagnostische Erkenntnisse abzuleiten.
Auf der Basis dieser Qualitätsstandards und des professionellen diagnostischen Handelns können dann für die Schülerin und den Schüler wirksame und individuell angepasste Fördermaßnahmen abgeleitet werden.
Die Phase der Interpretation und Analyse der Ergebnisse stellt somit die analytisch anspruchsvollste Phase dar, da nun Zusammenhänge, Übereinstimmungen, Widersprüche und Erkenntnislücken abgeleitet und interpretative Urteile aus den Ergebnissen begründet werden sollen. Diese interpretativen Urteile „beziehen sich dabei nicht auf Daten im empirischen, statistischen Sinne, sondern auf entscheidungs- und handlungsrelevante Informationen, die aus den Daten gewonnen werden“ (Meyer & Jansen 2016, S. 154). Es stellt sich also die Frage nach der Bedeutung der gewonnenen Ergebnisse für Entscheidungs- und Handlungsvorschläge. Hieraus ergeben sich für Interpretationen zwei Gebote (Meyer & Jansen 2016, S. 155 f.):
- Das Evidenzgebot legt fest, dass nur die tatsächlich diagnostisch erhobenen Merkmalsausprägungen und nur die tatsächlich festgelegten Hypothesen und Indikatoren Bezugspunkt der Interpretationen sein können. Andere Konstrukte, Konzepte oder Aussagen über nicht an der Erhebung beteiligte Personen sind nicht zulässig.
- Das Erklärungsgebot bestimmt, dass mögliche Zusammenhänge vorsichtig und als im künftigen Handeln noch zu prüfende Annahmen (neue Hypothesen) formuliert werden sollten. Vor allem sollten aus interpretierten Zusammenhängen keine vermeintlich eindeutigen Kausalitäten behauptet oder gar generalisiert werden.
Sehr hilfreich für diese anspruchsvolle Phase der Interpretation und Analyse sind kollegiale Fallberatungen und Beratungen mit den an diagnostischen Prozessen Beteiligten.
Auf der Basis der Interpretation und Analyse können die individualdiagnostischen Fragestellungen beantwortet und die Hypothesen bearbeitet werden, indem sie falsifiziert, verifiziert oder modifiziert werden. Gegebenenfalls werden neue, diagnostisch zu prüfende Hypothesen aus den Erkenntnissen gebildet. Der Bezugspunkt dieser Beantwortungen sind die Unterstützungsbedarfe und Ressourcen der Schülerin und des Schülers in ihrem und seinem sozialen, familiären und schulischen Umfeld.
Aus der Beantwortung der Fragestellungen und Bearbeitung der Hypothesen resultiert ein Entscheidungsvorschlag gemäß dem Auftrag des LaSuB. Dieser Entscheidungsvorschlag beruht auf den gewonnenen entscheidungs- und handlungsrelevanten Annahmen und trifft Aussagen
- zum Bestehen von sonderpädagogischem Förderbedarf,
- in welchem/n Förderschwerpunkt/en Förderbedarf besteht,
- welcher (weitere) Bildungsgang, Förderort und welche Klassenstufe empfohlen werden und
- zu Vorschlägen für die (sonder-)pädagogische Förderung, weitere Maßnahmen und das weitere diagnostische Vorgehen.
Vorschläge für die (sonder-)pädagogische Förderung beziehen sich immer auf die konkrete Schülerin oder den konkreten Schüler und das schulische Umfeld und können bspw. die didaktisch-methodische Ausrichtung des Unterrichts, Differenzierungs- und Individualisierungsmaßnahmen, spezifische Förderprogramme, notwendige Unterstützung der Lehrkräfte oder Hilfsmittel umfassen. Empfehlungen zu weiteren unterstützenden Maßnahmen fokussieren auf den Unterricht flankierende Maßnahmen, welche über die schulische Förderung hinausgehen, d. h. mit empfohlenen außerschulischen Trägern bzw. Partnern (bspw. Maßnahmen der Eingliederungshilfe/Jugendhilfe, Elternarbeit, Therapien, Freizeitbereich), Kooperationen und Aussagen zur Netzwerkbildung. Vorschläge zum weiteren diagnostischen Vorgehen verweisen auf die Erkenntnis, dass diagnostische Prozesse mit der Erstellung eines förderpädagogischen Gutachtens nicht abgeschlossen sind, sondern zirkulär neue diagnostische Fragestellungen und Vermutungen aufwerfen. Solche Vorschläge zum weiteren diagnostischen Handeln beinhalten weitere offen gebliebene Fragestellungen, neue zu untersuchende Hypothesen, weitere sich anschließende verlaufsdiagnostische Prozesse, Aussagen zur Evaluation vorgeschlagener Fördermaßnahmen und die Festlegung des Zeitraums der Folgeüberprüfung zum Fortbestehen sonderpädagogischen Förderbedarfes.