Grundprinzipien, Rahmenbedingungen und methodische Grundlagen sonderpädagogischer Beratung
(A) Grundprinzipien
Anknüpfend an die vorangestellte Definition von Beratung nach Mutzeck (2008) sowie die aufgezeigten Beratungsformen und -anlässe existieren Grundprinzipien, die für die Etablierung eines professionellen Beratungswesens bedeutsam sind:
Autonomie und Autonomieförderung in einem Beratungsprozess wird insbesondere durch das Anerkennen einer gegenseitigen Expertise sowie das Vorhandensein beraterischer (Grund-)Kompetenzen deutlich. Das Expertentum der Beraterinnen und Berater liegt dabei zu großen Teilen auch in den Regeln und Prinzipien der verwendeten Verfahren, weshalb bereits bei der Auswahl von potenziellen Gesprächsleitfäden und Beratungskonzepten die Eignung für eine (sonder-)pädagogische Beratung geprüft werden sollte (vgl. Schlee 2012, S. 23).
Ein planvoller Einsatz eines Beratungskonzeptes umschließt sowohl ein zielgerichtetes Vorgehen (Einhaltung der Grundstruktur und Gesprächsführungselemente) sowie die konsequente Verfolgung der eigentlichen Intention des Beratungsgespräches (vgl. Methner et al. 2013, S. 23).
Grundvoraussetzung professioneller Beratung ist die Fachkunde der Beraterin bzw. des Beraters, welche sich in zwei Wissensbereichen verorten lässt: 1. Kenntnisse zum Handlungsfeld (bspw. fachlich begründete Stellungnahme zur Notwendigkeit der Einleitung einer sonderpädagogischen Diagnostik bzw. zur Förderung/außerschulischen Maßnahmen) und 2. Expertise für den Beratungsprozess (vgl. Nestmann et al. 2004, S. 35).
Eine beidseitige Verbindlichkeit ermöglicht Orientierung und fördert das Vertrauen zwischen Beraterin oder Berater und Ratsuchender oder Ratsuchendem. Es schließt sowohl die Umsetzung des Beratungskonzeptes ein als auch die Einhaltung von Terminabsprachen oder der Schweigepflicht. Veränderungen müssen abgesprochen werden.
Für den Erfolg des Beratungsprozesses tragen alle daran Beteiligten Verantwortung, insbesondere für das eigene Handeln, die Einhaltung verbindlicher Absprachen sowie eine gelungene Kooperation (vgl. Methner et al. 2013, S. 24f.).
In den meisten Beratungskonzepten wird die Freiwilligkeit des Beratungsprozesses betont. Im Kontext Schule werden Ziele vorgegeben, die eine offene Beratung eingrenzen. Dies sollte beiden Seiten bewusst sein. Durch Transparenz und Zugewandtheit kann ein grundsätzliches Einverständnis zur Gesprächssituation herbeigeführt werden.
Der Problematik der Freiwilligkeit könnte durch eine vorhergehende Auftragsklärung begegnet werden. So kann vor der eigentlichen Beratung über den Anlass aufgeklärt und durch eine gemeinsame Zielsetzung Freiwilligkeit hergestellt werden (vgl. Hoyer 2013, S. 225).
Weiterhin gilt die Nachrangigkeit einer etwaigen Ursachensuche (vgl. Meyer & Jansen 2016, S. 171f.). Im Bereich einer sonderpädagogischen Beratung bildet damit die Erhebung des Ist-Standes, evtl. über die diagnostische Interpretation zurückliegender Lern- und Lehrprozesse, bereits den Abschluss der Ursachensuche. Sollte eine vertiefte Untersuchung und Abklärung notwendig sein, ist dies Aufgabe sonderpädagogischer, medizinischer oder/und psychologischer Diagnostik und Therapie.
(B) Rahmenbedingungen
Für einen erfolgreichen Beratungsprozess sind sowohl die Absicherung der äußeren Rahmenbedingungen als auch Kompetenzen im Rahmen der Gesprächsführung und Strukturierung des Beratungsprozesses ausschlaggebend. Beratung ist nicht „als subjektive Angelegenheit einzelner Kolleg*innen in unseren Bildungseinrichtungen“ (Hempel et al. 2017, S. 136) zu betrachten, deren Umsetzung einer individuellen Beliebigkeit unterliegt. Mit Beratung geht ein Professionalitätsanspruch sowohl an die Lehrkräfte als auch an die schulischen Institutionen selbst einher, der eine Implementierung entsprechender Rahmenbedingungen und methodischer Grundlagen einfordert.
Für alle Beteiligten ist Zeit nötig, um aktiv am Beratungsprozess mitzuwirken (Bamberger 2014, S. 112). Förderlich hat sich deshalb erwiesen, wenn der zeitliche Rahmen und Bedarfe im Vorfeld oder zu Beginn der Beratung transparent kommuniziert werden. Hilfreich ist zudem eine Regelmäßigkeit von Beratungs- und Sprechzeiten und die Etablierung von sogenannten Beratungsteams. Letzteres kann den gegenseitigen fachlichen Austausch unterstützen und ermöglicht ebenfalls, Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und zeitliche Ressourcen besser zu verteilen (vgl. Budnik 2009, S. 458).
Erfolgsversprechend gelten möglichst niedrigschwellige, gut erreichbare Angebote sowohl für Lehrkräfte als auch Eltern sowie Schülerinnen und Schüler. Ein guter Beratungsraum im schulischen Kontext sollte dabei folgenden Mindestanforderungen genügen (Mutzeck 2008, S. 82):
- Der Raum ist hell und einladend.
- Der Raum ist störungsfrei und wahrt die Vertraulichkeit.
- Die Ausstattung des Raumes ist auf die entsprechenden Zielgruppen angepasst oder anpassbar. So sollten Sitzgelegenheiten der Größe angemessen und einigermaßen bequem sein. Sie sollten eine Kommunikation auf Augenhöhe ermöglichen.
- Ausreichend Materialien (Applikation Verfahrensablauf) und Möglichkeiten zur Visualisierung sind leicht zugänglich verfügbar.
- Die Möglichkeit Wasser zu trinken soll angeboten werden.
Beratung befindet sich in einem permanenten Spannungsverhältnis zwischen schulischer Normorientierung einerseits und den Grundprinzipien einer sonderpädagogischen Beratung (u. a. Freiwilligkeit, Autonomieförderung, Nachrangigkeit der Ursachensuche) andererseits. Sowohl für die Ratsuchenden als auch für die Beraterin bzw. den Berater selbst entstehen hierdurch gehäuft Rollenkonflikte, die den Beratungsprozess beeinflussen können (vgl. Schwarzer & Posse 2005, S. 144f.). Insbesondere wenn die Rollen und Aufgaben im Vorfeld der Beratung (siehe auch Grundprinzipien sonderpädagogischer Beratung) nicht geklärt wurden, ist für Beraterinnen und Berater im schulischen Kontext eine Abgrenzung zur eigentlichen Rolle als Lehrkraft schwierig und kann einer Beratung schnell einen belehrenden Charakter verleihen (vgl. Hempel et al. 2017, S. 136). Wesentlich ist demzufolge, dass die eingenommenen Rollen transparent sind, dass die Beratungsfunktion im Kollegium Anerkennung findet und auch von der Schulleitung unterstützt wird (vgl. Schmalfuß & Höffner 2017, S. 34; Schwarzer & Posse 2005).
Neben der Rollenklärung haben insbesondere die Qualifikation sowie die Möglichkeiten auf Fort- und Weiterbildung
(Lernen (berufs-)lebenslang) einen Einfluss auf die Beratungsqualität. Alle beratenden Lehrkräfte müssen über ein Verständnis für Kommunikation und den Einsatz von Gesprächsführungselementen sowie über Einsicht in grundlegende Beratungsstrukturen verfügen. Allerdings ist zu beachten, dass Beraterinnen und Berater sonderpädagogisches, psychologisches und/oder therapeutisches Wissen in ihrer Rolle aufeinander abstimmen. Es besteht zudem die Notwendigkeit der Kooperation und Vernetzung mit anderen Professionen und Diensten wie bspw. Schulpsychologie oder Maßnahmen der Jugendhilfe, wobei Beraterinnen und Berater eine Art „Scharnierfunktion“ (Budnik 2009, S. 460) bei der Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen einnehmen.
(C) Methodische Grundlagen
Methodische Grundlagen umfassen Aspekte der methodischen und inhaltlichen Ausgestaltung durch die Beraterinnen und Berater sowie die Gestaltung der Beziehung zwischen Ratsuchenden und Beraterin bzw. Berater im Beratungsprozess.
Beraterische Grundhaltung
Generell kann die Beziehung zwischen Beraterinnen und Berater und ratsuchender Person bei allen Beratungsformen als ein wesentliches Erfolgskriterium gelten. Insbesondere die Grundhaltung einer Beraterin bzw. eines Beraters nach Carl Rogers (2007, S. 84ff.) – Akzeptanz, Empathie und Echtheit – sowie ein gelebtes humanistisches Menschenbild tragen zu einer positiven Beziehungsgestaltung innerhalb des Beratungsprozesses bei:
Eine bedingungsfreie Akzeptanz meint die durch die Beraterin bzw. den Berater entgegengebrachte Achtung, Wertschätzung und den Respekt. Es geht nicht darum, jegliches Verhalten zu billigen, sondern die Person, ihren Wert und ihre Bedeutung zu akzeptieren und zu schätzen. Dies trägt dazu bei, die Selbstakzeptanz des Ratsuchenden zu fördern, Ressourcen zu aktivieren und die Beziehung zu festigen. Das kann durch das Ausdrücken von Interesse und Solidarität und durch Ermutigung und Bestätigung von Erfolgen gelingen. Essentiell ist es, die ratsuchende Person mit ihren Gedanken und Problemlagen ernst zu nehmen. Die Eltern sollten als Experten für ihr Kind betrachtet werden.
Empathie wird im Rahmen des Beratungsprozesses als einfühlendes Verstehen des Gegenübers verstanden und kann in zweifacher Weise umgesetzt werden: (1) Die Bedeutung der Äußerungen des Gegenübers ergründen – Was könnte die ratsuchende Person dabei gefühlt haben und was sagt die Äußerung über sie aus? (2) Das einfühlende Mitteilen dieser Bedeutung, bspw. über Spiegeln (genaues Zurückwerfen des Gehörten) oder Paraphrasieren (sachliche Wiederholung des Gehörten) von Gefühlen ohne eine Wertung.
Echtheit meint, dass sich Beraterinnen und Berater der eigenen inneren Prozesse und Gefühle bewusst sind. Darüber hinaus können diese, unter Beachtung der Angemessenheit, der ratsuchenden Person mitgeteilt werden, indem bspw. die Wahrnehmung der Gesprächssituation geschildert wird (Methner et al. 2013, S. 48 ff.).
Elemente der Gesprächsführung
Basierend auf der von Rogers beschriebenen beraterischen Grundhaltung benennt Mutzeck (2008) sechs Elemente der Gesprächsführung, die im Beratungsprozess einzusetzen sind, um eine erfolgreiche Beratungskommunikation zu unterstützen (vgl. Methner et al. 2013, S. 50 ff.):
Ein direktes Ansprechen mit Namen und die Verwendung der direkten Rede unterstützt die Wertschätzung und Eigenaktivität der Beteiligten. Zudem sollten Sichtweisen und Situationen des Gegenübers/des Ratsuchenden direkt angesprochen und auf Verallgemeinerungen verzichtet werden.
Ziel des Beratungsprozesses ist es, Informationen auf einer Vertrauensbasis zu erhalten. Hierfür gilt, das Gegenüber nicht zu unterbrechen, den Gesprächsfluss in Gang sowie den Blickkontakt aufrecht zu halten, eine offene und zugewandte Körperhaltung einzunehmen und dem Ratsuchenden genügend Zeit zur Bearbeitung des Erlebten einzuräumen.
Um Missverständnisse zu vermeiden, Fakten des Gesagten und Zusammenhänge festzuhalten, ist es notwendig, am Ende einer jeden Phase bzw. eines thematischen Abschnittes das Gesagte im Kern zusammenfassend wiederzugeben. Auf eine Interpretation der Sichtweisen und Wahrnehmungen des Ratsuchenden wird dabei verzichtet. Der dabei entstehende Dialogkonsens trägt ebenfalls zur Strukturierung des gesamten Prozesses bei.
Vertiefende Fragen können einerseits noch unklare Inhalte präzisieren, andererseits helfen sie dem Gegenüber, seine Gedanken zu strukturieren. Unterstützend ist die Verwendung von W-Fragen (Wo tritt es auf? Wer ist anwesend? Wie haben sich die Anwesende verhalten?) sowie das Spiegeln und Paraphrasieren des Gesagten. Um den Gesprächspartner nicht in eine Rechtfertigungsposition zu bringen, sollen Warum-Fragen vermieden werden.
Nach konkreten Situationsbeschreibungen schließt sich die Frage nach der Innensicht zur Situation an („Was ging Ihnen durch den Kopf, als … ?“). Somit können die Gesprächsinhalte zur Situation und zur Innensicht miteinander verknüpft und handlungsleitende Entscheidungen sichtbar werden.
Neben Gedanken sind auch Emotionen für das eigene Handeln enorm bedeutsam. Im Beratungsprozess sollten daher immer auch die Gefühle in Verbindung mit einer konkreten Situation und auch einer gefundenen Lösung erfragt werden.
Gesprächsstruktur
Allen pädagogischen Beratungskonzepten, die im schulischen Kontext Beachtung finden, liegt eine Grundstruktur zugrunde, deren Einzelelemente je nach Beratungsanlass und Rahmenbedingungen unterschiedlich gewichtet werden (Schuppener & Schmalfuß 2023). Auch für die sonderpädagogische Beratung stellt diese Struktur eine Grundlage dar, die für einen erfolgreichen Abschluss durchlaufen werden sollte.
Schritt | Inhalt |
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1. Auftragsklärung |
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Gesprächsvorbereitung: Vordenken und Auswahl der Gesprächsstruktur, der Gesprächsführungselemente und evtl. (Wieder-)Nutzbarmachung notwendigen Expertenwissens |
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2. Erhebung/Betrachtung des Ist-Zustandes |
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3. Erarbeitung des Ziel-Zustandes |
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4. Finden von Lösungen |
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Ein strukturiertes Vorgehen trägt zum Gelingen einer Beratung bei. Ob eine Beratung erfolgreich ist, hängt in jedem Fall von den beteiligten Personen, deren subjektiven Theorien, der aktuellen Verfassung, dem Auffassungsvermögen, der Sprachkompetenz sowie der Umgebung, in welcher die Beratung stattfindet, ab. Beratende Lehrkräfte stehen insbesondere in sonderpädagogischen Beratungen vor der Herausforderung, eigene Expertise und beraterische Zurückhaltung im Gespräch ausbalancieren zu müssen, was ein hohes Maß an Gesprächsführungskompetenz (Fortbildungskatalog) abverlangt. Es ist daher ratsam, diese möglichst aktiv einzuüben und regelmäßig zu aktualisieren.
Relevant ist dabei auch der eigene Sprachstil. So sollten Fremdwörter, dialektale Einfärbungen und Schachtelsätze vermieden werden. Auf eine klare, verständliche Sprache und Aussprache ist zu achten.
Exkurs: Digitale Beratung
Die fortschreitende Digitalisierung im gesamtschulischen Kontext gewinnt auch bei der Gestaltung von Beratungsprozessen zunehmend an Bedeutung. Ausgehend von den in den letzten Jahren in Sachsen gewonnenen Erfahrungen lassen sich folgende grundlegende Aussagen treffen:
Telefonische und digitale Beratungen
- können in der Regel zeitnah angeboten werden, insbesondere dann, wenn es um die Klärung zeitlicher und organisatorischer Abläufe oder grundlegende Hinweise geht.
- setzen eine gute Vorbereitung seitens der Beraterin/des Beraters (Sammeln von Vorwissen, gezielte Auswahl von Fragen), situative Flexibilität sowie den bewussten Umgang mit möglichen Fehlinterpretationen (Dialogkonsens) voraus.
- erfordern verfügbare technische Gegebenheiten (digitales Endgerät, stabile Internetverbindung) sowie medientechnische Grundkompetenzen.
- sind grundsätzlich nur mit einer sehr geringen Teilnehmeranzahl durchzuführen. Insbesondere bei bestehenden Sprachbarrieren muss im Vorfeld geklärt werden, inwiefern der Einsatz einer Dolmetscherin/eines Dolmetschers als realisierbar erscheint und inwieweit technische Hilfsmittel (bspw. Transkriptions-App mit automatischer Übersetzung) die Kommunikation grundlegend sichern können.
- eignen sich insbesondere für
- die Klärung zeitlicher und organisatorischer Abläufe
- Rückfragen bezogen auf bereits vorliegende medizinische und/oder therapeutische Diagnosen und/oder eine umfassende pädagogische Einschätzung der Stammschule (bspw. mithilfe eines Vorabfragebogens).
Telefonische und digitale Beratungen ersetzen nur in ausgewählten Fällen den persönlichen Kontakt zur Schule, zu den Eltern und der Schülerin oder dem Schüler. Wird ersichtlich, dass die prädiagnostischen Informationen nicht ausreichen, um zu einem Ergebnis zu kommen und Empfehlungen auszusprechen, sind weitere Prozessschritte durchzuführen (bspw. Beobachtungen im Kindergarten-/Schulalltag, Gespräche mit weiteren Beteiligten).