Sonderpädagogische Beratung im Förderschwerpunkt Sehen
Schnittstelle pädagogischer und sonderpädagogischer Förderbedarf: Indikatoren für einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Sehen
Für die Beratung und Diagnostik eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Sehen ist nicht allein die Beeinträchtigung von Strukturen und Funktionen des Sehens und damit die medizinische Diagnose (Art und Grad der Sehschädigung etc.) ausschlaggebend. Zentral ist die Beantwortung der Frage, ob und ggf. wie sich diese Diagnosen auf die Kompetenzentwicklung und auf die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen auswirken.
Sonderpädagogische Beratung und Diagnostik für Lernende mit Beeinträchtigungen des Sehens und Blindheit orientiert sich deshalb grundlegend an folgenden drei Diagnosebereichen:
Im Rahmen sonderpädagogischer Beratung und Diagnostik sind die Erkenntnisse anderer Professionen (Medizin, Therapie, Orthoptik, etc.) zu würdigen und untereinander sowie zur pädagogisch intendierten Überprüfung des funktionalen Sehens in Beziehung zu setzen.
In diesem Zusammenhang können die aus den medizinischen und sozialrechtlichen Definitionen von Blindheit und Sehbehinderung bekannten Kriterien, wie bspw. Messwerte zu den Funktionen des Sehens, Relevanz erhalten:
- Fern- und Nahvisus (Grenzwerte: 0,3 bis 0,05 Sehbehinderung; 0,05 bis 0,02 hochgradige Sehbehinderung; Blindheit: < 0,02 - vgl. u. a. Lang & Heyl 2021, S. 17f.; Walthes 2014, S. 56ff.),
- Kennzeichnung des Gesichtsfeldes sowie
- Angaben
- zum Farbsehen,
- zum Raumsehen,
- zum Formsehen,
- zur Objekt- und vor allem Gesichtswahrnehmung,
- zur Akkommodation und
- zur Adaptation (dazu ausführlich u. a. Zihl et al. 2012).
Diese Funktionen werden einerseits unter kontrollierten, klinischen Bedingungen, sprich im Kontext des physiologischen Sehens erfasst und dokumentiert. Andererseits ist der Blick auf diese Funktionen bei Sehaufgaben im Lern- und Lebensumfeld des Kindes oder Jugendlichen unerlässlich. Diese Beschreibung des Sehvermögens wird unter dem Konstrukt des funktionalen Sehens gefasst (vgl. Henriksen & Laemers 2016).
Die Lokalisierung der Sehschädigung ist innerhalb der gesamten Kette der an der visuellen Wahrnehmung beteiligten Areale möglich: von den vorderen Bereichen des Sehapparats (Auge mit Hornhaut, Linse, Glaskörper, Kammerwasser und Netzhaut), der Weiterleitung der ersten Informationen (Ganglienzellen, Sehnerv) bis hin zur komplexen zerebralen Verarbeitung der Informationen und der Generierung des Sehvorgangs. Dort zu lokalisierende Schädigungen werden als Cerebral Visual Impairment beschrieben.
Auch können unterschiedliche Ursachen, Zeitpunkte des Auftretens (bzw. des erstmaligen Diagnostizierens) und Vorhersagen für einen weiteren Verlauf erfasst werden und für die Beschreibung der visuellen Wahrnehmung und deren mögliche Entwicklung relevant sein.
Individualdiagnostisch sind zudem Informationen zu
- weiteren Wahrnehmungsbereichen, insbesondere zur haptischen und akustischen Wahrnehmung sowie
- zu anderen Bereichen, unter anderem der Kognition und der Bewegung
in Verbindung bzw. in Wechselwirkung mit einer Beeinträchtigung des physiologischen/funktionalen Sehens zu betrachten [vgl. Diagnostische Teilbereiche (Förderschwerpunkt Sehen)].
Mit Blick auf Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen des Sehens und Blindheit müssen zwingend die Barrierefreiheit von schulischen Rahmenbedingungen (u. a. Beleuchtung, Farb- und Kontrastgestaltung) geprüft und Möglichkeiten für die förderliche Gestaltung der Lernumgebung aufgezeigt werden.
Bei einem diagnostischen Zugang zur Ebene der Vermittlung besteht in erster Linie die Frage, inwieweit die allgemein- und fachdidaktischen Angebote anschlussfähig für Lernende mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit sind. Visuell basierte Rituale, wie bspw. das Zeigen und die sprachliche Begleitung mit den Verweisen „Hier-und-Da“, aber auch die grundsätzlich visuell dominanten Medien stellen Barrieren dar, bspw.:
- Bilder als Gesprächsanlass,
- Bücher und Arbeitsblätter in Schwarzdruck auf Papier,
- Tafelanschriebe,
- Projektionen und digitale Technologien mit nicht umgehbarer Mausführung und/oder interaktive Displays sowie
- nicht haptisch oder akustisch vermittelbare Daten bei Experimenten.
Sie erfordern entweder eine Überwindung durch mehr Variantenreichtum in den Angeboten, in der Vermittlung von Lernstrategien und Rückmeldemöglichkeiten (Universal Design for Learning) und/oder den zielgenauen Einsatz assistiver Technologien und weiterer angemessener Vorkehrungen wie Brailleschrift, Vergrößerung, Alternativtexte, Bildbeschreibungen und zugängliche Formate auch im Kontext von Leistungsermittlung und -bewertung.
Die Diagnosebereiche sind konsequent in die Erarbeitung folgender praxisorientierter Unterstützungsmaterialien im Förderschwerpunkt Sehen (Beratung, Diagnostik und Förderung) eingeflossen:
- Indikatoren (Förderschwerpunkt Sehen) (*.pdf, 0,91 MB)
- Entscheidungshilfe (Förderschwerpunkt Sehen) (*.pdf, 0,11 MB)
- Diagnostische Teilbereiche (Förderschwerpunkt Sehen) (*.pdf, 0,91 MB)
Hinweise für die Beratung
Für eine Beratung im Förderschwerpunkt Sehen ist ein fachärztlicher Befund grundlegend. Ein solcher Befund führt jedoch nicht zwangsläufig zur Einleitung des Verfahrens, sondern ist schülerbezogen bezüglich der festgelegten Diagnosekriterien und Indikatoren zu prüfen.
Liegt der Befund zum Zeitpunkt der Beratung noch nicht vor, werden die Eltern auf die notwendige Nachreichung hingewiesen.
Darüber hinaus werden im Rahmen der Beratung verschiedene Informationsquellen für die Entscheidungsfindung herangezogen. Die Perspektive des Lernenden zu Fragen bspw. über verfügbare Strategien oder subjektiv wahrgenommene Barrieren sollte stets in geeigneter Weise einbezogen werden.
Um die Beratung besser planen und zielgerichtet durchführen zu können, sollte der MSD bereits im Vorfeld an Eltern, pädagogische Fachkräfte (Kindertageseinrichtung) oder Lehrkräfte (Stammschule) einen Vorabfragbogen versenden. Die Bögen umfassen u. a. Fragen zur Sehbeeinträchtigung, zu individuellen Hilfsmitteln, zu Fördermaßnahmen und zum aktuellen Sehverhalten der Schulanfängerin oder des Schulanfängers bzw. der Schülerin oder des Schülers.
Folgende Vorabfragebögen stehen für den Förderschwerpunkt Sehen zur Verfügung:
Dokumente noch in Erarbeitung
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Im Ergebnis der Beratung fasst der MSD seine Erkenntnisse im Formblatt B2 zusammen. Wird im Ergebnis der Beratung keine Einleitung des Verfahrens zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs empfohlen, können Empfehlungen zur individuellen Förderung im Bereich Sehen formuliert werden.