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Sonderpädagogische Beratung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Schnittstelle pädagogischer und sonderpädagogischer Förderbedarf: Indikatoren für einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

„Zur Beschreibung des jeweiligen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs [sind] das Umfeld und der Erfahrungshorizont des Kindes bzw. Jugendlichen, die individuellen Kompetenzen sowie die Entwicklungsbereiche einschließlich elementarer Kompetenzen in der Selbstversorgung einzubeziehen“ (KMK 2021, S. 4).
Sonderpädagogische Beratung und Diagnostik orientiert sich grundlegend an folgenden vier Diagnosekriterien (vgl. Indikatoren), welche stets in ihrer Wechselwirkung zueinander sowie in Bezug auf Aspekte der außer- und innerpersonellen Einflüsse des einzelnen Kindes bzw. Jugendlichen sorgsam zu prüfen sind. Ein einzelnes Diagnosekriterium darf nicht als alleiniges Ausschlusskriterium bzw. als alleinige Begründung betrachtet werden.

Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung steht im Zusammenhang mit einer deutlich unterdurchschnittlichen intellektuellen Leistung.
 
Gemäß ICD-11 werden folgende Diagnosen und Ausprägungen beschrieben:

Störung der Intelligenzentwicklung (6A00)
deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten und adaptives Verhalten
Einteilung leichtgradig 
(6A00.0)
mittelgradig  (6A00.1) schwergradig (6A00.2) tiefgreifend (6A00.3)
Standardab-weichungen unter dem Mittelwert   etwa zwei bis drei  etwa drei bis vier  etwa vier oder mehr 
Selbstversorgung und Unterstützungsbedarf grundlegende Aktivitäten zur Selbstversorgung, ggf. mit Unterstützung grundlegende Aktivitäten zur Selbstversorgung mit erheblicher und konsequenter Unterstützung  grundlegende Fähigkeiten zur Selbstversorgung nach intensivem Training bei angemessener Assistenz und Pflege  durchgängiger Assistenz- und Pflegebedarf 
Sonstige Störungen der Intelligenzentwicklung

Störungen der Intelligenzentwicklung, nicht näher bezeichnet (6A00.Z) 
Vorläufige Störung der Intelligenzentwicklung (6A00.4)

Die neue Version ICD-11 trat im Januar 2022 in Kraft. Neben ihr ist weiterhin die Version ICD-10 gültig. Für eine Übergangsfrist von 5 Jahren, bis mindestens 2027, finden beide Versionen Anwendung.

Gemäß ICD-10 werden folgende Diagnosen und Ausprägungen beschrieben:

ICD-10: Intelligenzstörung (F70-F79)
Intelligenzminderung F70 bis F73
  • Leichte Intelligenzminderung (F70) 
    • IQ-Bereich von 50-69
  • Mittelgradige Intelligenzminderung (F71) 
    • IQ-Bereich von 35-49
  • Schwere Intelligenzminderung (F72) 
    • IQ-Bereich von 20-34
  • Schwerste Intelligenzminderung (F73) 
    • IQ unter 20
Weitere
  • Dissoziierte Intelligenz (F74) 
  • andere Intelligenzminderung (F78)
  • nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung (F79) 

Auch das DSM-5 beschreibt eine intellektuelle Beeinträchtigung bzw. Entwicklungsstörung, jedoch ohne die Einteilung in Schweregrade. Es nimmt stattdessen eine phänomenologische Beschreibung vor. 

Der Schweregrad einer intellektuellen Beeinträchtigung wird mittels normierter, individuell durchgeführter standardisierter Intelligenztestverfahren festgestellt. Diese können durch Skalen zur Einschätzung der sozialen Anpassung in der jeweiligen Umgebung (adaptive Kompetenzen) erweitert werden (vgl. ICD-11 2024). 
„Intellektuelle Fähigkeiten und soziale Anpassung können sich verändern. Sie können sich, wenn auch nur in geringem Maße, durch Übung und Rehabilitation verbessern. Die Diagnose sollte sich immer auf das gegenwärtige Funktionsniveau beziehen“ (ICD-11 2024).

Im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zeigen Kinder und Jugendliche umfassenden Förderbedarf in verschiedenen Entwicklungsbereichen, wobei signifikante „Differenzen zwischen dem erkennbaren Entwicklungsalter und dem tatsächlichen Lebensalter“ (KMK 2021, S. 10) auftreten.

Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Unterrichts- und Förderangebote. Zusätzlich sind in vielen Fällen Therapiemaßnahmen erforderlich.

Die Einschätzung des aktuellen Entwicklungsstandes in den Entwicklungs- und Kompetenzbereichen

  • Wahrnehmung, 
  • Denken,
  • Gedächtnis,
  • Sprache und Kommunikation,
  • Körper und Motorik,
  • Sozialverhalten und Emotionen,
  • Lern- und Arbeitsverhalten sowie
  • Spielverhalten

sollte daher neben den aktuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten immer die durchgeführten Förder- und Therapiemaßnahmen sowie die künftig erforderlichen Förder- und Therapiebedarfe in den Blick nehmen.

Sarimski (2016) stellt heraus, dass „Einschränkungen in sozial-adaptiven Kompetenzen […] neben Einschränkungen in den Intelligenzfunktionen zu den Kernmerkmalen der Definition einer intellektuellen Beeinträchtigung [gehören]“ (Sarimski 2016, S. 219).

Im Sinne der ICF-Systematik von Behinderung der WHO (vgl. zur ICD-11 außerdem Engelhardt, Sarimski & Zentel 2022) sind damit als individuelle Voraussetzung sozialer Teilhabe folgende Dimensionen zu beschreiben:

  • Kognitiv-kommunikative Kompetenzen (Sprachverständnis, expressive Sprache und schulische Fertigkeiten)
  • Praktische Kompetenzen (im Kontext Alltagsbewältigung wie Selbstversorgung und Teilhabe im öffentlichen Raum) 
  • Soziale Kompetenzen (Beziehungsgestaltung und Erfüllung sozialer Erwartungen) 

Diese Kompetenzen sind mit Blick auf mögliche Teilhabeeinschränkungen im Rahmen von Beobachtung bzw. diagnostischen Gesprächen systematisch zu erfassen.
 
Dabei wird eine Orientierung an der ICF-Systematik im Sinne einer übergreifenden Ebene der Betrachtung in Abhängigkeit von Körperfunktion, Körperstruktur und Umwelt empfohlen.

 

Einen orientierenden Einblick in die ICF entlang von Mindmaps gibt Peter Lienhardt (2017).
Aus der Praxis wurden Aspekte der Autonomie und Teilhabe zusammengetragen und mit Fragestellungen hinterlegt, um einen gezielten Blick auf die Selbstständigkeit im vorschulischen und schulischen Alltag der Kinder und Jugendlichen richten zu können.  

Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zeigen trotz intensiver (sonder-)pädagogischer Förderung gravierende Lernrückstände in den zentralen Bildungsbereichen (Sächsischer Bildungsplan) bzw. in den Kernfächern der Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen.

Neben der Einschätzung des aktuellen Lernstandes sind die Rahmenbedingungen vorschulischen oder schulischen Lernens in den Blick zu nehmen wie bspw. Lehrer-Schüler-Beziehung, Gruppen- bzw. Klassensituation, Passfähigkeit der vorschulischen bzw. schulischen Bedingungen oder Unterstützungsangebote mit Blick auf vorhandene Potenziale und Unterstützungsbedarfe. 

Außerdem ist die Betrachtung von biografischen und soziokulturellen Erfahrungen unmittelbar bedeutsam (vgl. KMK 2021, S. 4), um die Bewältigung vorschulischer und schulischer Lernanforderungen einzuordnen.

Während interindividuelle und soziale Resilienzfaktoren Entwicklungsprozesse befördern, hindern vielfältige Risikofaktoren in Form von außer- und innerpersonellen Einflüssen (extra- oder interpersonell) eine Person daran, ihr Potential zu entfalten. Aufgabe der sonderpädagogischen Beratung und Diagnostik ist es, diese Faktoren im Rahmen einer Kind-Umfeld-Analyse zu erfassen und additiv in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Das Vorhandensein von Risikofaktoren darf kein alleiniges Entscheidungskriterium für oder gegen einen sonderpädagogischen Förderbedarf sein.

Im Bewusstsein, dass im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eine Verschiebung oder Fehlplatzierung umfassenden Einfluss auf den Bildungs- und Berufsweg haben kann, müssen folgende Risikofaktoren verantwortungsvoll in den Blick genommen werden:

  • psychische und physische Diagnosen bspw.
    • Sinnesbeeinträchtigungen 
    • zusätzliche progrediente Erkrankungen oder psychiatrische Diagnosen (bspw. selektiver Mutismus
  • biografische und soziokulturelle Erfahrungen bspw.
    • negative Testerfahrungen bzw. Testangst
    • Traumatisierungen
    • Migrationshintergrund
    • wenige oder fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache
    • familiäre Armutslage
    • Fluchterfahrungen
  • interindividuelle und soziale Resilienzfaktoren wie
    • Selbstwirksamkeitserwartung 
    • Kontrollüberzeugung 
    • Optimismus
    • soziale Bindungen
    • Unterstützung 
    • Struktur im Alltag

Risikofaktoren sind im Rahmen der Beratung und Diagnostik neben ihrer Aussagekraft als Indikator auch als potenzielle Ausschlusskriterien für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zentral zu berücksichtigen. Somit ist auszuschließen, dass Beeinträchtigungen in Entwicklungsbereichen alleinig durch spezifische Risikofaktoren (wie bspw. unterbrochene Bildungsbiografien, nicht deutsche Herkunftssprache, Traumatisierung etc.) verursacht werden.

Ggf. können so der Blick auf einen sozialpädagogischen Hilfebedarf oder einen medizinisch-therapeutischen Hilfebedarf gelenkt und geeignete Maßnahmen empfohlen werden.    

Die beschriebenen Aspekte sind konsequent in die Erarbeitung folgender praxisorientierter Unterstützungsmaterialien für den Beratungsprozess im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eingeflossen. 
Das Bedingungsgefüge der Diagnosekriterien ist immer eine Einzelfallentscheidung. Für die Entscheidungsfindung, ob sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu vermuten ist, sind die Diagnosekriterien anhand der Indikatoren sorgsam zu prüfen und die Aspekte der außer- und innerpersonellen Einflüsse in die Erwägung einzubeziehen. 

Eine umfassende Aufstellung von möglichen Beobachtungsschwerpunkten zur Erfassung des aktuellen Lern- und Entwicklungsstandes sowie der Rahmenbedingungen des Lernens und der Entwicklung steht als weitere Arbeitshilfe für den MSD zur Verfügung.

Dokument noch in Erarbeitung

Hinweise für die Beratung

Im Sinne eines systemischen Ansatzes ist die Einbeziehung von schulischen und außerschulischen Informationen und Erkenntnissen bereits im Beratungsprozess geboten. Das betrifft insbesondere

  • Analyse aktueller Befunde
  • Beobachtung und Dokumentation der aktuellen Fähigkeiten, Kompetenzen und Interessen des Kindes oder Jugendlichen und seines Lernumfelds
  • Erfassung und Evaluation der durchgeführten (Förder-)Maßnahmen
  • Prüfung und Diskussion vorhandener Ressourcen
  • Gespräche mit Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften 
  • Gespräche mit Eltern 
    • Fragen, Wünsche, Ängste und Befürchtungen aufnehmen
    • verschiedene Möglichkeiten (sonder-)pädagogischer Förderung im Bildungssystem aufzeigen und besprechen
    • Prozess des Verfahrens zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf darstellen

Um die Beratung besser planen und zielgerichtet durchführen zu können, kann der MSD bereits im Vorfeld an Eltern, pädagogische Fachkräfte (Kindertageseinrichtung) oder Lehrkräfte (Stammschule) einen Vorabfragbogen versenden. Der Bogen umfasst Fragen zum Lern- und Entwicklungsstand bzw. zur aktuellen Situation der Schulanfängerin/des Schulanfängers bzw. der Schülerin/des Schülers. Folgende Vorabfragebögen stehen für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zur Verfügung:

Außerdem stehen Informationsmaterialien in 21 Sprachen und in einfacher Sprache zur Verfügung:

Im Rahmen sonderpädagogischer Beratung und der sich ggf. anschließenden Diagnostik sind Gutachten anderer Professionen (u. a. Medizin, Psychologie, Therapie) zu würdigen und untereinander sowie zur angestrebten sonderpädagogischen Diagnostik in Beziehung zu setzen. 

Mögliche Überschneidungen zu anderen Förderschwerpunkten sollten sorgsam geprüft werden. Im Einzelfall ist die beratende bzw. diagnostische Kompetenz eines anderen Förderschwerpunkts hinzuzuziehen.

Hinweis: Bei Vorliegen einer klinischen Diagnose im Sinne einer „geistigen Behinderung“ oder „komplexen Behinderung“ kann das Verfahren zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf in den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung oder körperlich-motorische Entwicklung in Absprache mit dem LaSuB ohne Beratung beantragt werden. Ein persönliches Gespräch mit den Eltern zu den o. g. Aspekten sollte in jedem Fall erfolgen.

Auf den Einsatz von standardisierten Testverfahren oder die Verwendung von ausgewählten Untertests sollte im Rahmen der Beratung i. d. R. verzichtet werden.

Im Einzelfall können Screeningverfahren unter spezifischen Fragestellungen Anwendung finden: 

  • Abgrenzung zum Förderschwerpunkt Lernen
  • Abgrenzung zu einem sozialpädagogischen Hilfebedarf bzw. medizinisch-therapeutischen Förderbedarf

Empfohlene Screeningverfahren:

  • DES (Kurz- und Langversion)
  • Kuno Bellers Entwicklungstabelle 0-9 (Beller 2016; Bezugsquelle:  https://www.beller-kkp.de [Stand: 07.05.2024])

Ausführliche Hinweise zu Beratung, Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung sind im Menüpunkt schwere und mehrfache Behinderung beschrieben. 

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