Hauptinhalt

Sonderpädagogische Diagnostik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Sonderpädagogische Diagnostik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung unterliegt mehrdimensionalen Herausforderungen.

Die hohe Komplexität der Diagnostik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung erfordert seitens der Diagnostiklehrkräfte

  • ein umfangreiches Wissen über die Spezifik aller Entwicklungsbereiche und die Fähigkeit, diese in Beziehung zu schulischen Lernanforderungen zu setzen,
  • grundlegende Entwicklungsoffenheit, die den Blick auch auf „verborgene Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler“ richtet (KMK 2021, S. 18),
  • eine konsequente Subjektorientierung: Das Kind bzw. der Jugendliche steht mit seiner Biografie, seinen Erfahrungen und Sichtweisen im Mittelpunkt und muss in allen Schritten auf seinem individuellen Entwicklungs- und Aneignungsniveau einbezogen werden (vgl. Schuppener & Klein 2018),
  • die Bereitschaft zur multiprofessionellen Zusammenarbeit,
  • die Bereitschaft zum dialogischen und partizipativen diagnostischen Vorgehen, 
  • einen verantwortungsvollen und reflektierten Einsatz von diagnostischen Methoden und Instrumenten, einschließlich der Auswertung und Interpretation der Beobachtungs- oder Testergebnisse,
  • die Bewusstheit über mögliche Auswirkungen auf die Schul- und Berufsbiografie sowie
  • einen offenen Umgang mit möglichen Vorurteilen der Eltern bzw. subjektiven Wahrnehmungen der meldenden Lehrkraft.

Kinder und Jugendliche im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung haben oftmals multiple Diagnostikerfahrungen, da sie meist schon klinische Diagnosen im Sinne einer zugeschriebenen „geistigen Behinderung“ erhalten haben. Die (u. U. negativen) Erfahrungen müssen Berücksichtigung in der diagnostischen Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen finden (vgl. Schuppener & Klein 2018).

Handlungsleitend für den gesamten diagnostischen Prozess und die sich daran anschließende Förderplanung sollten immer folgende übergeordnete Fragen in Bezug auf die Lernsituation und das Lernumfeld sein (vgl. Bundschuh 2019, S. 234):

  • Wie lernt das Kind?
  • Welche wichtigen Prozesse finden beim individuellen Lernen statt?
  • Auf welche Ressourcen kann zurückgegriffen werden bzw. wie können Ressourcen aktiviert werden?
  • Welche behindernden Bedingungen liegen im Hinblick auf Lernen und Verhalten vor?

Trotz des Anspruches einer ganzheitlichen Kind-Umfeld-Analyse geht es immer auch um die Akzeptanz von Unbestimmtheit und Nicht-Verstehen in der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (vgl. Schuppener et al. 2021). Das erscheint nicht zuletzt wichtig, weil „Entwicklung ein dynamischer Prozess ist, der sich nicht immer in festgelegten, aufeinanderfolgenden Stufen vollzieht und der von äußeren und inneren Bedingungen zugleich beeinflusst wird“ (KMK 2021, S. 18f.). Damit verbunden ist auch die Anerkennung, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung „in hohem Maße deutungsabhängig sind vom Gegenüber“ (Schuppener 2022, S. 176) und soziale Angewiesenheit und Stellvertretung in der Bildungszusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen eine hohe Bedeutung haben, besonders „für jene zu sprechen und pädagogische Entscheidungen zu treffen, die nicht für sich selbst sprechen und einstehen können“ (Ackermann & Dederich 2011, S. 9 in Schuppener 2022, S. 176).

Die Planung und Durchführung der sonderpädagogischen Diagnostik erfolgt auf der Grundlage individualdiagnostischer Fragestellungen und Hypothesen. Hierfür werden in einer Übersicht Formulierungsbeispiele bereitgestellt. Sie dienen als Orientierung und müssen für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler angepasst werden.

„Kinder mit geistiger Behinderung unterscheiden sich [...] interindividuell gravierend in ihren Fähigkeiten. Diese enorme Heterogenität erfordert ein diagnostisches Vorgehen, das sehr flexibel auf den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes abgestimmt ist“ (Aktas 2012, S. 56). Es gilt, verschiedene Einflüsse, Hintergründe und Besonderheiten bei der Diagnostikplanung und -durchführung zu berücksichtigen, um den Kindern und Jugendlichen überhaupt eine Chance zu geben, ihre Leistungspotenziale zeigen zu können:

  • Gestaltung der Testsituation: In stringenter Orientierung auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes bzw. Jugendlichen muss ein „diagnostisches Setting“ so gestaltet sein, dass es als angenehm, ablenkungsarm, motivierend und aktivierend wahrgenommen wird. Es sollten ausreichend (Bewegungs-)Pausen und mit Blick auf eine reduzierte Aufmerksamkeitsspanne ggf. auch mehrere Sitzungen eingeplant werden.
  • Motivation: „Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf haben oft unlustvolle Erfahrungen in Leistungssituationen erlebt“ (Joél 2017, S. 18). Das kann zu spezifischen Misserfolgserwartungen führen. Zudem stellt eine Diagnostiksituation auch eine „privilegierte Situation“ dar, wenn eine wohlwollende, zugewandte Haltung der Diagnostiklehrkraft besteht. Diese kann vom Kind als positiv erlebt werden (eins-zu-eins-Zuwendung). Beides wirkt sich auf die Leistungsmotivation aus. Es ist demnach darauf zu achten, dass ein Test motivierende Stimuli bietet, die dem Kind bzw. Jugendlichen Spaß machen (vgl. Joél 2017) und eine freudvolle Konzentration auf die Aufgaben ermöglichen.
  • Über- oder Unterschätzung: „Bei Kindern mit geistiger Behinderung neigt man schnell dazu, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen, und mutet ihnen dann unbeabsichtigt weniger zu, als sie leisten können“ (Aktas 2012, S. 53). Gleichsam kann es vereinzelt natürlich auch zu Überschätzungen kommen, die ebenfalls zu Schwierigkeiten in der diagnostischen Situation führen und keine gelungene Einschätzung des Entwicklungs- und Leistungsstandes ermöglichen (vgl. Schuppener & Klein 2018).

Hinweise zu Methoden und Instrumenten

Mögliche diagnostische Methoden und Instrumente für eine sonderpädagogische Diagnostik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sind diagnostische Gespräche, Beobachtungen, informelle und standardisierte Verfahren sowie die Analyse fachärztlicher bzw. psychologischer oder therapeutischer Befunde. 

Um einen ganzheitlichen Blick auf die Schülerin bzw. den Schüler zu erhalten, wird der Einsatz folgender diagnostische Methoden empfohlen:

  • ein diagnostisches Gespräch 
    • mit den Eltern zur bisherigen Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen
    • mit dem Kind bzw. Jugendlichen selbst
    • mit den Bezugspersonen der besuchten Einrichtung vor Beginn der Schulpflicht bzw. den Lehrkräften im schulischen Bereich
  • offene (Unterrichts-)Beobachtungen in mindestens zwei Unterrichtsstunden bzw. vorschulischen Angeboten bzw. Sequenzen
  • Durchführung mindestens eines standardisierten Verfahrens zur kognitiven Entwicklung (bspw. SON-R 2-8, SON-R 6-40, IDS 2)
    • Ausgenommen sind Kinder und Jugendliche mit komplexen Beeinträchtigungen, für welche die Durchführung standardisierter Tests nicht angezeigt ist (vgl. Hinweise unter schwere und mehrfache Behinderung).
    • Der Rückgriff auf Daten aus bereits durchgeführten Verfahren (nicht älter als 1 Jahr) und deren Verwendung im Gutachten ist möglich.
    • Bei gemeinsamer Gutachtenerstellung mit dem Förderschwerpunkt Lernen ist der Einsatz der KABC-II empfehlenswert.
    • Die Durchführung eindimensionaler Intelligenzverfahren, wie bspw. der CFT-1R oder der CFT-20-R sind im Rahmen Feststellungsdiagnostik nur ergänzend zu empfehlen, da komplexere Intelligenzverfahren ein deutlich breiteres Spektrum der kognitiven Fähigkeiten ermitteln und einen differenzierteren Einblick in die Kompetenzen des Kindes bzw. Jugendlichen ermöglichen.
  • Durchführung eines spezifischen Verfahrens im Bereich der Schulleistungen / allgemeinen Entwicklung, bspw.
    • Schulleistungen: IDS 2
    • allgemeine Entwicklung: BUEVA III, IDS 2
  • Durchführung eines Verfahrens und / oder einer geschlossenen Beobachtung im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung und der adaptiven Kompetenzen, bspw.
    • Vineland-III
    • Untertest zur emotionalen und sozialen Entwicklung aus der IDS 2
    • VFE, SEN bzw. IfES

Für die Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, ist der Einsatz eines nonverbalen Verfahrens zur Messung der kognitiven Fähigkeiten verbindlich (bspw. SON-R 2 - 8 oder SON-R 6 - 40). Alternativ kann auch die sprachfreie Skala der KABC-II genutzt werden.
Für Schülerinnen bzw. Schüler, die auf Unterstützte Kommunikation angewiesen sind, wird empfohlen, sich bei der Auswahl geeigneter Methoden und Instrumente im Einzelfall durch eine Fachberaterin oder einen Fachberater Unterstützte Kommunikation beraten zu lassen. 

Die Durchführung standardisierter Testverfahren ist grundsätzlich zu bevorzugen. Sofern dies in der sonderpädagogischen Diagnostik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nicht möglich ist, kann im Bedarfsfall auf informelle Verfahren zurückgegriffen bzw. alternativ eine Adaption / qualitative Auswertung der o. g. Verfahren durchgeführt werden.

  • Altersbandbreite: Zum Vermeiden von Boden- und Deckeneffekten sollte man bei einer Verfahrensauswahl darauf achten, dass das Verfahren nicht auf wenige Altersgruppen beschränkt ist und insbesondere sehr junge Kinder getestet werden können (vgl. Joél 2017). Adaptiv kann bzw. muss hier ein jüngerer Alterseinstieg gewählt werden.
  • Standardisierung: „Alle vorgenommenen Veränderungen und Abweichungen von der Standardisierung müssen notiert werden, um sie bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigen zu können“ (Aktas 2012, S. 59). Es kann durchaus notwendig sein, dass aufgrund vorgenommener Adaptionen (Veränderung der Durchführungsregeln: längere Reaktionszeiten geben, Instruktionen erweitern etc.) keine normierte Auswertung mehr möglich ist, aber die Ergebnisse der Aufgaben in Form von qualitativen Beschreibungen in ein Gutachten einfließen können.
  • Aussagekraft von Tests: Ergebnisse dürfen nicht überinterpretiert werden. „Es darf [...] auch von einem komplexeren Intelligenztest, sei er noch so gut, nicht erwartet werden, dass sich darauf aufbauend umfangreiche Fördermaßnahmen ableiten ließen“ (Joél 2017, S. 18).

Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die in der Landesliste (2024) empfohlenen Methoden und Instrumente für die Diagnostik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.

Dokument noch in Erarbeitung

Darüber hinaus können folgende Methoden und Instrumente sowohl im Feststellungsverfahren als auch im Rahmen der prozessbegleitenden Diagnostik zum Einsatz kommen:

Dokumente noch in Erarbeitung

Für die diagnostische Tätigkeit steht zudem folgendes Unterstützungsmaterial zur Verfügung:

Dokument noch in Erarbeitung

Eine Intelligenzdiagnostik ermöglicht keine umfassende Abbildung der Fähigkeiten eines Kindes bzw. Jugendlichen und reicht allein keinesfalls aus, um über den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu entscheiden. 
Intelligenztests kommt jedoch eine besondere Bedeutung zu, „da sie scheinbar eine gewisse ‚Eindeutigkeit‘ suggerieren. Nach wie vor gelten sie als zentrale Informationsquelle für die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfes in den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung“ (Schuppener et al. 2021, S. 165). Die Herausforderung besteht in diesem Zusammenhang darin, „dass es sich bei den kognitiven Fähigkeiten nach wie vor um einen definitorischen Indikator für den sonderpädagogischen Förderschwerpunkt geistige Entwicklung handelt, dieser aber gleichzeitig kaum standardisiert zu ermitteln ist, da sich Normierungen von (Intelligenz-)Testverfahren in der Regel nicht oder kaum auf Kinder bzw. Jugendliche mit einer möglichen geistigen Behinderung beziehen“ (Schuppener et al. 2021, S. 165). 
Standardisierte Instrumente zur Diagnostik kognitiver Fähigkeiten sind eine wichtige Methode der Förderdiagnostik, wenn die Entwicklungssituation und die Lernausgangslage des Kindes bzw. Jugendlichen dies zulassen. Ist dies nicht der Fall, muss zwangsläufig ein flexibles und individualisiertes Vorgehen gewählt werden. Hierbei ist eine Abkehr von der quantitativen Auswertung zugunsten einer qualitativen Auswertung ggf. unverzichtbar. 
Die alleinige Durchführung von Intelligenzverfahren ohne zusätzliche Datenerhebung aus dem Schulleistungsbereich, den Entwicklungsbereichen (Kognition, Sprache, Emotionen und Sozialverhalten, Körper und Motorik) sowie der adaptiven Kompetenzen ist für die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung unzureichend (vgl. Indikatoren) (vgl. Schuppener & Klein 2018).

zurück zum Seitenanfang