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Gestaltung von Förderprozessen im Bereich Autismus

Schülerinnen und Schüler mit Diagnose im Autismus-Spektrum bedürfen im schulischen Kontext besonderer Rahmenbedingungen, um ein fähigkeitsadäquates Lernen und soziale Integration zu ermöglichen (vgl. bspw. Knorr 2012; Schirmer 2010; Schuster 2010). 
Das „Rahmenmodell der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen“ (Eckert & Sempert 2012) beschreibt acht Kernbereiche, deren Berücksichtigung einen Rahmen für die adäquate Gestaltung schulischer Förderung darstellt.

Abbildung eines Rahmenmodells für die schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen nach Eckert und Sempert, dessen Inhalte im weiteren Text benannt und beschrieben werden
Abbildung: „Rahmenmodell der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen“ (Eckert & Sempert 2012) 

Das Modell bietet eine Möglichkeit der Systematisierung von Maßnahmen der schulischen Bildung, Beratung, Förderung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum und dient so als ein wesentlicher Aspekt für professionelles Handeln. 

Die „Professionalität der Fachkräfte“ betrifft die Information, Aufklärung und Haltung aller an der schulischen Förderung beteiligten Personen und stellt eine wichtige Grundlage zur Qualitätssicherung und ggf. -verbesserung der schulischen Situation dar (vgl. Trost 2012). Sie umfasst eine rechtzeitige schülerbezogene Information aller beteiligten Personen sowie eine frühzeitige Planung der Beschulung und ein gegenseitiges Kennenlernen, aber auch die autismusspezifische Aufklärung sowie Fort- und Weiterbildungen für das direkt mit der Schülerin oder dem Schüler arbeitende Fachpersonal (vgl. AWMF 2021, S. 432). Zudem sollten Informationen über außerschulische Betreuungs- und Förderangebote vorhanden sein und eine regelmäßige Zusammenarbeit mit externen Fachleuten stattfinden.  

Diagnostische Erkenntnisse werden als Grundlage für die autismusspezifische Förderplanung genutzt. Wichtig ist, die Analyse und Zielbestimmungen auf allen Strukturebenen (u. a. Schülerin bzw. Schüler, Klasse, Lehrkraft, Schule, Schulsystem und externe Systeme) anzusetzen und unter Einbeziehung aller beteiligten Akteure zu realisieren (vgl. Knorr 2012). Sie umfasst die Planung von Maßnahmen auf einer oder (meist) mehreren Strukturebenen, die schriftliche Fixierung aller Maßnahmen in einem Förderplan und die klare Zuweisung von Zuständigkeiten und Weisungsbefugnissen (ggf. inkl. zusätzlicher Vereinbarungen) sowie die regelmäßige Überprüfung und Dokumentation.  

Durch ihre syndromspezifischen Probleme und die assoziierten neuropsychologischen Besonderheiten u. a. in den Bereichen der Theory of Mind, der exekutiven Funktionen und der zentralen Kohärenz (vgl. Dziobek & Bölte 2011) bedürfen Schülerinnen und Schüler mit Autismus im Unterricht, im Schulalltag und in Prüfungssituationen individualisierter Unterstützungsangebote. Dazu zählen nach Eckert & Sempert (2012) u. a. folgende Bereiche: 

  • angemessener Nachteilsausgleich 
  • spezifische Fördermaßnahmen (z. B. sonderpädagogische Begleitung und Förderung) 
  • ergänzende Unterstützungsangebote (z. B. Schulbegleitung)
  • individuell vorbereitete Übergänge (z. B. Klassenwechsel, Schulwechsel)

 

Spezifische Fördermaßnahmen werden als Maßnahmen begriffen, die die Förderung und Beeinflussung von Verhalten zum Ziel haben. Schülerbezogene autismusspezifische Interventionen können schulalltags- und unterrichtsimmanent oder im Rahmen von Förderstunden realisiert werden. Sie haben das Ziel, dem Kind bzw. Jugendlichen Autonomie und Teilhabe zu ermöglichen. Anfänglich von der Lehrkraft initiiert, sollen sie zunehmend vom Kind oder Jugendlichen selbstständig ausgeführt werden. Durch eine gezielte Anleitung zum selbstständigen Handeln und Problemlösen erlangt das Kind oder der Jugendliche mehr Autonomie und kann besser in der Gruppe, im Unterricht, im Schulalltag bzw. im Alltag teilhaben.

Der Einsatz einer Schulbegleitung kann als eine geeignete individuelle Leistung zur Ermöglichung einer im Rahmen der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbaren Bildung eingeschätzt werden. Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter begleiten Schülerinnen und Schüler, die nur mit Hilfe bzw. Unterstützung den Schulbesuch verwirklichen können. Im Rahmen des Feststellungsverfahrens oder der prozessbegleitenden Diagnostik kann aus sonderpädagogischer Sicht eine Schulbegleitung empfohlen werden. Eine Schulbegleitung muss durch die Eltern beim zuständigen Leistungsträger beantragt werden. Der Leistungsträger prüft den Antrag und trifft eine begründete Entscheidung.
 
Übergänge (z. B. Klassen- oder Schulwechsel) stellen für Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum durch ihre spezifische Symptomatik eine große Herausforderung dar. Diese sollten gut vorbereitet und begleitet werden, um bewährte Hilfen in neue Systeme übertragen zu können (vgl. Staatsinstitut 2010).  

Eine strukturierte Lernumgebung umfasst v. a. die Methodik und Didaktik des Unterrichts und die Gestaltung des Schulalltags. Zu förderlichen Unterrichtsmerkmalen bei Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum finden Eckhart und Neff (2011) in einer zusammenfassenden Literaturanalyse verschiedene übergreifende förderliche Prinzipien didaktisch-methodischer Art: 

  • Strukturiertheit des Unterrichts und der Lernangebote 
  • Rhythmisierung und Ritualisierung 
  • Visualisierung
  • Pädagogik der kleinen Schritte
  • Vorhersehbarkeit durch klar strukturierten Unterricht, Vorankündigungen von (sozialen, strukturellen und leistungsbezogenen) Erwartungen und von Änderungen im Ablauf 
  • Einsatz von Methoden, die sich an visuellen Hilfen orientieren (Visualisierungen von Tages- und Unterrichtsabläufen und Zeitabschnitten, Ablaufpläne, Checklisten, visuelle Anleitungen, farbliche Markierungen u. a.) 
  • Ritualisierung durch tägliche Routinen und feste Abläufe 
  • Individualisierung, Differenzierung und Interessenorientierung
  • Einsatz von (ggf. kognitiv-)verhaltenstherapeutisch orientierten Maßnahmen
  • eindeutige Lehrersprache und klare, eindeutige (Ziel-)Formulierungen 
  • Einzelansprache, konkrete Aufforderungen, individuelles Nachfragen und Verständniskontrolle

Besondere Hinweise zur Gestaltung von Übergängen wurden durch die Arbeitsgruppe Autismus im Verband Sonderpädagogik – Landesverband Sachsen veröffentlicht. 

Spezifische Lehrplananteile meint die Fokussierung auf diagnosebezogene Probleme bei sozialen und kommunikativen Kompetenzen in Einzel-, Klassen- und Gruppensituationen und deren Förderung im Schulalltag. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang insbesondere Maßnahmen des Sozialtrainings (Social Stories, Comic Strips, Sozialautopsien u. a.) und verhaltenstherapeutisch orientierte Verfahren (z. B. Verträge, Token-Systeme, Selbstinstruktionstraining). Anregungen zum Sozialtraining geben u. a. Häußler et al. (2003) und Paschke-Müller et al. (2012). 
Als Interventionen auf Klassenebene könnten Projekte (bspw. zu Mobbing, Verschiedenartigkeit oder Behinderung) oder ein Sozialtraining durchgeführt werden, die auf die Verbesserung der Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit abzielen. Zudem sollten Spezialinteressen der Schülerinnen und Schüler im Autismus-Spektrum in den Schulalltag einbezogen werden. 

Ein funktionaler Umgang mit Verhaltensbesonderheiten meint u. a. pädagogische Maßnahmen zur Verhaltensregulation (z. B. Verstärkersysteme), auf Klassenebene bestehende Absprachen zwischen den Fachpersonen zum Umgang mit leichteren Verhaltensauffälligkeiten, ein individuell angepasstes Krisenkonzept zur Vermeidung von und zur Reaktion auf gravierende Verhaltensauffälligkeiten und angemessene Rückzugsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum. Auch außerhalb der Klasse sollen potenziell schwierige Situationen für Schülerinnen und Schüler im Autismus-Spektrum (bspw. heftige Reaktion auf Körperkontakt) bekannt sein (vgl. Eckert & Sempert 2012). Es sollte zudem im Team die Möglichkeit bestehen, schwierige Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum zu besprechen und Handlungsvorschläge zu entwickeln (bspw. im Rahmen von kollegialer Beratung). Zudem können auch Personen eingebunden werden, die dem jeweiligen Schulsetting nicht angehören (bspw. Fachberaterinnen und Fachberater Autismus, Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, Therapeutinnen und Therapeuten eines Autismuszentrums). Diese Person fungiert dann gleichzeitig als Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner, Beraterin oder Berater sowie als „Bindeglied“ für alle an der Förderung beteiligten Personen.  

Eine weitere Grundlage der schulischen Förderung bildet die regelmäßige Kooperation mit den Eltern. Sinnvoll ist es, frühzeitig eine wertschätzende Kooperation zu etablieren und Kooperationsmechanismen aufzubauen und festzuschreiben (festgelegte Intervalle für Gespräche und Elternbriefe, Einträge in Pendelhefte u. a.).  

Präventive Maßnahmen der autismusspezifischen Aufklärungsarbeit und der Stärkung von Peerbeziehungen sind eine wichtige Voraussetzung, um soziale Teilhabe und Lernen zu ermöglichen sowie Mobbing-Gefahr und sozialen Ausgrenzungstendenzen präventiv begegnen zu können. Die Arbeit mit den Mitschülerinnen und Mitschülern (etwa in Form von Informationsveranstaltungen oder Projekten zum Thema Autismus und Diversität) ist hier von besonderer Bedeutung (vgl. Gray 2013; Humphrey & Symes 2011; Kappus & Schröder 2008). Zudem ist neben einem allgemeinschulischen Konzept zur Prävention und Intervention bei Mobbing vor allem eine wachsame Haltung von Bedeutung, die bei Mobbingvorfällen eine schnelle Intervention auf mehreren Ebenen möglich macht. 

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