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1. Förderdiagnostik, Sonderpädagogischer Förderbedarf, Behinderung – grundlegendes Verständnis

„Diagnostisches Handeln ist ‚Erkenntnistätigkeit zur Gestaltung und Begleitung institutioneller  und außerinstitutioneller Prozesse der Entwicklung, des Lernens, der Erziehung und Bildung auch unter erschwerten Bedingungen‘ […] und basiert auf Menschenbildannahmen und Vorstellungen von Entwicklung bzw. Lernen, die anerkennend und wertschätzend sind; nimmt Risiko- und Resilienzbedingungen in den Blick und erfordert letztlich Bezugssysteme oder Theorien“ (Ziemen 2016, S. 40 mit Bezug auf Ricken & Schuck 2011, S. 110).

In (sonder-)pädagogischen Arbeitsfeldern werden Lehrkräfte und Diagnostiklehrkräfte nicht selten mit medizinischen und/oder psychologischen Diagnosen konfrontiert, die auf statusdiagnostischen Erklärungsmustern und syndromspezifischen Wissensbeständen basieren. Diese können durchaus wichtige Ansatzpunkte für die (sonder-)pädagogische Beratung und Diagnostik darstellen. Zudem können sie die Zuweisung von bestimmten Hilfsmaßnahmen, bspw. der Finanzierung einer Schulbegleitung auf der Grundlage § 112 SGB IX oder § 35a SGB VIII ermöglichen. Da (sonder-)pädagogische Diagnostik anderen Aufgaben (Beratung und Förderung), Zielen (Bildungsteilhabe) und Strategien (prozessorientierte Diagnostik – s. u.) folgt, dürfen die Ergebnisse einer solchen medizinischen oder psychologischen Klassifikationsdiagnostik nicht unreflektiert in die (sonder-)pädagogische Diagnostik übernommen werden. Mit der Zuschreibung einer Störung oder der Feststellung des Schweregrads eines Störungsbildes, wie sie häufig in medizinischen oder psychologischen Diagnosen vorgenommen werden, wird die Komplexität der Lebenssituation des betroffenen Kindes oder Jugendlichen nicht erfasst (vgl. Baumann, Bolz & Albers 2021, S.15ff.). Diese Diagnosen verweisen vielmehr häufig auf zum Teil unveränderbare Eigenschaften eines Menschen. Ein solcher Ausgangspunkt schränkt Handlungsoptionen und die Entwicklung von Ideen, wie Kinder und Jugendliche in Schule und Unterricht optimal teilhaben können, enorm ein. 
Anspruch einer sonderpädagogischen Beratung und Diagnostik ist es demzufolge, Ergebnisse von psychologischen Testdiagnostiken und klassifizierenden medizinischen Diagnostiken in eine „verstehende Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte“ (Baumann, Bolz & Albers 2021, S. 23) einzubetten und das Kind oder den Jugendlichen im Gesamtzusammenhang seiner individuellen Voraussetzungen, Möglichkeiten, Ressourcen und Barrieren zu verstehen. 
Ausgehend von diesem Grundverständnis nutzt die Sonderpädagogik verstärkt das bio-psycho-soziale Modell der funktionalen Gesundheit (International Classification of Function, abgekürzt ICF) der WHO (2001) als Rahmenmodell (vgl. Rauer & Stecher 2021). Die ICF (2005), speziell die ICF-CY (2017, Version für das Kinder- und Jugendalter) versucht das ältere medizinische Krankheitsfolgenmodell (ICIDH der WHO, 1980) mit sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen bei der Beschreibung von Problemlagen zu verknüpfen. Konkret geht es um das Zusammenspiel verschiedener Bereiche, die damit jeweils in den Fokus der Diagnostik kommen:

  • Körperfunktionen (bspw. Funktionalität des Sehens)
  • Körperstrukturen (bspw. Fähigkeit, ein geschriebenes Wort in seinem Sinnzusammnhang zu verstehen)
  • Aktivitäten und Partizipation (bspw. Beteiligung an Unterrichtsgesprächen) 
  • Umweltfaktoren (bspw. soziales Netzwerk, Klassengröße, Lehrkraft)
  • Personenbezogene Faktoren (bspw. Verhaltensmuster, Alter, Geschlecht)

Die Berücksichtigung der Wechselwirkungen dieser Bereiche ermöglicht zielführende Fragen im gesamten förderdiagnostischen Prozess:

  • Was macht das (Gesundheits-)Problem im Leben eines Kindes oder Jugendlichen aus und welche Faktoren beeinflussen dieses Problem negativ (Hemmnisse/Barrieren) oder positiv (Erleichterungen/Förderfaktoren)?
  • Welche Möglichkeiten zur Teilhabe und Aktivität hat das Kind oder der Jugendliche mit seinen individuellen Körperfunktionen und -strukturen und wie lassen sich Aktivität und Teilhabe verbessern?

Zentral ist also die Berücksichtigung von Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren) und deren Wechselwirkung mit Funktionsfähigkeiten (Körperfunktion, Aktivität, Partizipation) im Rahmen der Beschreibung von Ressourcen und Problemlagen (vgl. Baumann, Bolz & Albers 2021, S. 22). Diese Ausrichtung verlangt eine subjektorientierte Diagnostik sowie eine Einheit von Diagnostik und Förderung. 

Förderdiagnostik
Sonderpädagogischer Förderbedarf
Behinderung
Pädagogische Verantwortung im Arbeitsfeld sonderpädagogischer Beratung, Diagnostik und Förderung
Literatur
 

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