Behinderung
Es existieren verschiedene soziale Subsysteme, die je ein eigenes Verständnis von Behinderung als Grundlage haben.
So beruhte der medizinische Begriff der Behinderung in Anlehnung an das Krankheitsfolgen-Modell der WHO (ICIDH, WHO 1980) auf kausalen Deutungsmustern und wird nur in direkter Verbindung mit einer Krankheit oder Schädigung sichtbar (desease > impairment > handicap). In Anerkennung der Dynamik, Komplexität und Relationalität von Behinderungen wurde ergänzend zur ICD mit der ICF ein bio-psycho-soziales Modell entwickelt, das die Teilhabe einer Person in den Mittelpunkt stellt und die verschiedenen Faktoren erfasst, die zu einer Teilhabeeinschränkung beitragen.
So betrachtet kennzeichnet Behinderung einen Zustand eingeschränkter Aktivität und Teilhabe, der aus der Interaktion zwischen den körperlichen und geistigen Strukturen und Funktionen mit den Kontextfaktoren der Person und des Umfeldes erwächst. Die ICF wird als transdisziplinäres Klassifikationssystem genutzt und wirkt sich auf die Sozialgesetzgebung aus. Sie wird als gesetzlich verpflichtendes Instrument im Rahmen der Ermittlung des individuellen Bedarfes eines Leistungsberechtigten genutzt (§ 118 SGB IX).
Die KMK bezieht sich in ihrem Beschluss zur „Inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen“ auf die Behindertenrechtskonvention (2008) und fokussiert gleichermaßen die Teilhabe, indem sie unter Menschen mit Behinderungen im schulischen Kontext Kinder und Jugendliche versteht,
„[…] die langfristige körperliche, seelische, geistige Beeinträchtigungen oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (KMK 2011, S. 6).
Der sozialrechtlich verwendete Behinderungsbegriff soll primär Ressourcenansprüche legitimieren und orientiert sich ebenfalls am bio-psycho-sozialen Modell. Es wird ein Wirkungszusammenhang zwischen einem Gesundheitsproblem und der daraus folgenden Einschränkung der Teilhabe unter Einbeziehung der Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren hergestellt.
Der pädagogische Behinderungsbegriff bezieht sich u. a. auf Erziehungsschwierigkeiten, individuelle Lebensbedingungen sowie Lern- und Entwicklungsziele (vgl. Dederich 2016, S. 107f.). Wird Behinderung dahingehend verstanden, dass etwas erschwert wird, ein Hindernis, eine Barriere, eine Einschränkung besteht (vgl. Dederich 2016, S. 107), ergibt sich eine Verbindung zwischen Behinderung und sonderpädagogischem Förderbedarf. Auch im sonderpädagogischen Kontext, vor allem in der Förderplanung, werden die Vorzüge einer ICF-basierten Sichtweise gesehen (vgl. Hollenweger 2019; Bernasconi 2022). Damit begründet eine medizinische Diagnose bzw. ein Gesundheitsproblem nicht zwingend das Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs, denn nicht jedes gesundheitliche Problem hat Auswirkungen auf den schulischen Bereich.
Bei der Prüfung, ob im Einzelfall ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, müssen immer mehrere Faktoren und deren Wechselwirkung zueinander berücksichtigt werden: der Lern- und Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen, die schulischen Rahmenbedingungen und ihre Veränderungsmöglichkeiten sowie das außerschulische Umfeld.