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Hinweise für die Diagnostik

Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung stammen aus nichtschulischen Kontexten wie bspw. aus medizinischen Gutachten, aus Berichten der Reha-Klinik nach stationärer Maßnahme oder Befunden zusätzlicher begleitender therapeutischer oder medizinischer Dienste (vgl. bspw. Damag & Schlichting 2016, S. 73ff.). Die Einbeziehung des Wissens anderer Fachdisziplinen in die sonderpädagogische Diagnostik bedarf einer verlässlichen Kommunikationsstruktur zur Vermeidung von Missverständnissen. Für die Aufrechterhaltung einer störungsfreien Kommunikation sollte der Kontakt mit außerschulischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gepflegt und in regelmäßigen Abständen ein Austausch mit Fachkräften anderer Dienste organisiert werden.  

Je komplexer die Beeinträchtigung ist, desto vielschichtiger stellen sich auch die diagnostischen Herausforderungen dar. Berufspraktische Erfahrung und kontinuierliche Fort- und Weiterbildung in diesem Themenfeld sind wichtige Voraussetzungen, um den besonderen Ansprüchen eines solchen Prozesses gerecht werden zu können. Zudem können kollegiale und kooperative Beratungen im Sinne einer Nutzung systemeigener Ressourcen einen wesentlichen Beitrag im Zuge der Professionalisierung leisten. 

Diagnostik ist ein organisierter Prozess, der nach wohl überlegten und geordneten Strukturen auch Alltagsbeobachtungen (zusätzlich zu den gezielten Beobachtungssequenzen in Bezug auf Entwicklungsbereiche) einzubeziehen und zu systematisieren weiß. 
Die Durchführung einer fundierten Diagnostik steht immer in einem Spannungsfeld zwischen der zur Verfügung stehenden Zeit und den komplexen Herausforderungen der Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung. Mit dem Ziel der Identifizierung der Stärken, Interessen und Entwicklungschancen dieser Schülerinnen und Schüler wird es darauf ankommen, 

  • geeignete Momente der Beobachtung zu finden (bspw. in Bezug auf Wachheit und Freisein von Schmerzen), 
  • in diesen Momenten selber nicht in Eile zu sein (zeitliche Abstimmung in den eigenen schulischen Systemen, in der besuchten Einrichtung sowie mit den Eltern), 
  • geeignete räumliche und sächliche Bedingungen vorzufinden (bspw. durch koordinierte Reservierung von Räumen) sowie
  • sich auf die Person selber (und die Bezugspersonen) einlassen zu können (durch die zuvor umgesetzten Planungen und eine damit eigene innere Ruhe).  

Der Begriff der Mehrfachbehinderung deutet schon darauf hin, in der Diagnostik den Blick auf das Kind oder den Jugendlichen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung auf mehreren Ebenen zu richten (vgl. Klauß 2017). 
Hier spielen sowohl inhaltliche Aspekte eine wesentliche Rolle wie die Ebene der

  • Entwicklungsbereiche (bspw. Kommunikation und Sprache, Körper und Motorik, Wahrnehmung) und
  • medizinisch-pflegerischen und therapeutischen Bedarfe (Schmerz und Pflege), welche nur in Kooperation mit den entsprechenden Experten bzw. Institutionen beurteilt werden können (vgl. Schäfer, Loscher & Mohr 2024) sowie

interdisziplinäre, kooperative Fragestellungen (bspw. die Kooperation mit der Medizin, der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder therapeutischer Expertise wie Physio-, Ergo, Logo- oder Autismustherapie) (vgl. vertiefend hierzu Schindler 2021). 

Hinweise zu Methoden und Verfahren

Mögliche diagnostische Methoden und Instrumente für eine sonderpädagogische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung sind diagnostische Gespräche, Beobachtungen, informelle und standardisierte Verfahren sowie die Analyse fachärztlicher bzw. psychologischer oder therapeutischer Befunde.

Die Entscheidung für eine diagnostische Methode und ein diagnostisches Instrument erfolgt in Abhängigkeit von den zu beantwortenden individualdiagnostischen Fragestellungen und Hypothesen sowie den Zugangsfertigkeiten des Kindes bzw. des Jugendlichen. 

Um einen ganzheitlichen Blick auf die Schülerin bzw. den Schüler zu erhalten, wird der Einsatz folgender Methoden sonderpädagogischer Diagnostik empfohlen (vgl. Wolf & Bienstein 2019):

  • Diagnostische Gespräche  

Durch die unzureichenden Kommunikationsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung werden häufig Gespräche mit den Eltern bzw. mit nahen Bezugspersonen, pädagogischen Fachkräften, Lehrkräften sowie ggf. Therapeutinnen und Therapeuten geführt, die ihre Erfahrungen zu spezifischen Fragestellungen mitteilen können. Sie werden deshalb als Expertinnen und Experten direkt in den Diagnoseprozess einbezogen.

  • Verhaltensbeobachtungen und -beschreibungen 

Neben der Informationsgewinnung durch Gespräche ist der Beobachtung und Beschreibung des Verhaltens eine wesentliche Bedeutung beizumessen (vgl. Wolf & Bienstein 2019). Mit Verhalten sind hier alle Äußerungen gemeint (Gestik und Muskeltonus, Mimik und Blicke, Laute und Atmung), die für die pädagogische und therapeutische Förderung der Kinder und Jugendlichen sowie die angemessene unterrichtliche Gestaltung bedeutsam sein können (vgl. Bernasconi 2019 und 2024).

  • Strukturierte Beobachtungs- und Entwicklungsbögen 

Eine methodische Hilfestellung im Rahmen von diagnostischen Gesprächen und Verhaltensbeobachtungen bieten Beobachtungs- und Entwicklungsbögen, die einer überlegten Struktur folgen und damit im Gespräch bzw. im diagnostischen Prozess Orientierung bieten können.

  • Standardisierte Testverfahren und Screenings 

Die nachfolgenden Dokumente geben einen Überblick über aktuelle Verfahren für die Diagnostik im Kontext einer Schwerstmehrfachbehinderung hinsichtlich verschiedener Diagnosefelder. Diese können sowohl im Rahmen des Verfahrens zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf als auch in der prozessbegleitenden Diagnostik zum Einsatz kommen. Testverfahren aus der Landesliste (2024) sind gesondert gekennzeichnet. 

Dokumente noch in Erarbeitung

Nach Einschätzungen der AWMF (vgl. Schanze 2014) liegen für den Personenkreis der Menschen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung keine Verfahren im Bereich der Intelligenzdiagnostik vor (vgl. Wolf & Bienstein 2019), da

  • Kinder und Jugendlichen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung in ihrer heterogenen Zusammensetzung nicht in Normen erfasst werden können und 
  • die standardisierten Untersuchungsbedingungen (Zeit, Aufgaben, Anwendung) nicht zu gewährleisten sind (vgl. Bundschuh & Winkler 2019). 

Zudem wären durch die unzureichende Differenzierung in den unteren Bereichen Bodeneffekte zu erwarten.

Standardisierte Beobachtungsverfahren und Entwicklungstests bieten in diesem Kontext eine mögliche erste Option, Informationen über den Entwicklungsstand und die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung zu erhalten. 

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